Der trigonometrische Mittelpunkt Preußens
Die Marienhöhe, einige hundert Meter vom S‑Bahnhof Attilastraße, ist aus drei Gründen einen Besuch wert.
Erstens kann man dort sehen, wie verblendend übertriebener Naturschutz sein kann. Ich erinnere mich an eine wunderbare Aussicht von Süden über die ganze Innenstadt. Das war bei einem meiner ersten Besuche. Inzwischen sind aber rund um die Aussichtsplattform auf dem Gipfel Bäume gewachsen, und man sieht nur noch diese. Die müssten eigentlich alle radikal weg – aber so etwas ist heute nicht mehr durchsetzbar. Die Sichtachsen des Sterns von Moritz von Nassau im Klever Tiergarten leiden unter dem selben Problem.
Zweitens befindet sich dort oben ein Trigonometrischer Punkt, deutlich angezeigt durch ein kleines Denkmal. Nicht irgendeiner, sondern der, von dem aus ganz Preußen vermessen wurde. Noch heute ist dieser Punkt der Ausgangspunkt des Vermessungsnetzes der Bundesrepublik. Gewählt wurde er damals natürlich gerade wegen dieser heute unsichtbaren Aussicht.
Streng genommen hängt auch dieser Punkt von einem Koordinatensystem ab, weil er ja dessen Nullpunkt ist – aber zumindest wurde er in Berlin definiert und nicht durch die Greenwich-Mafia, unter der die Franzosen immer noch leiden, weil ihren Pariser Null-Meridian niemand ernst nimmt.
Drittens gibt es am Hang der Marienhöhe eine typisch Berliner Gartenwirtschaft, die nicht von Touristen überlaufen ist und bei guten Wetter trotz der nicht vorhandenen Aussicht einen Besuch lohnt. Man sitzt in einem verwunschenen Garten unter hohen, alten, moosigen Bäumen, trinkt Berliner Weiße und isst Sülze, Brathering oder Buletten. Es ist, als wäre hier die Zeit stehengeblieben.
Dass die Zeit ganz und gar nicht stehenbleibt, sondern rasend schnell verstreicht, wurde mir schlagartig klar, als uns der Eigentümer die Reklamekarte zeigte, die seine Eltern zur Eröffnung dieser Wirtschaft drucken ließen. Da sieht man, gezeichnet im Stil der 1950er Jahre, eine leere Fläche mit Liegestühlen, Tischchen und hier und da einem dekorativen Tannenbäumchen in Hüfthöhe.
Dieser ganze verwunschene, alte Garten mit seinen hohen Bäumen ist jünger als ich selbst! Der war überhaupt nicht schon immer da. Stärker noch: Die ganze Marienhöhe erweist sich als Trümmerberg, aufgeschüttet nach dem zweiten Weltkrieg!
Aufmerksame Leser werden nun fragen, wie denn auf einem nach der Abschaffung Preußens aufgetürmten Schutthaufen der Nullpunkt des preußischen Vermessungsnetzes stehen kann.
Nun, die Marienhöhe gab es früher auch schon einmal, seit der Eiszeit. Sie bestand aber nicht wie die meisten Berge in der Gegend aus Sand, sondern aus Kalk. Als dann im neunzehnten Jahrhundert Berlin enorm zu wachsen begann und man alles vollbaute, wurde dieser Kalk als willkommenes Baumaterial abgetragen, einschließlich der Aussicht und des alten preußischen Trigonometrischen Punktes.
Und dann kam Hitler, und dann wurde Berlin bombardiert, und dann kamen die Trümmerfrauen und räumten den Schutt, und der musste irgendwo hin. Also hat man die Marienhöhe samt Trigonometrischem Punkt kurzerhand wieder neu angelegt, aus dem alten Material.
Es gibt mehrere solcher Trümmerberge, und manche ändern immer noch ihre Höhe. Bis 2015 war der Teufelsberg im Südwesten die höchste Erhebung Berlins. Inzwischen wurde er überholt von den Arkensbergen im Nordosten. Von Ulbrichts Außenring kann man ihr Wachstum gut verfolgen.
Daneben steht Berlins einziges Windrad. Wenn die Arkensberge weiter wachsen, geht dem demnächst die Luft aus.
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