Die letzte Love Parade und die erste Kirche
Entfernungsangaben beziehen sich gern auf die älteste Kirche einer Stadt. Die Nikolaikirche ist theoretisch die älteste Kirche vom alten Berlin, vor der Eingemeindung von Cölln. Aber die wurde fast völlig zerbombt und wird seit dem Wiederaufbau nicht mehr als Kirche genutzt.
Die älteste Kirche, die noch als solche genutzt wird, ist die Marienkirche in der Nähe des Fernsehturms. Sie führt ein schläfriges Dasein.
Einmal wollte ich mit Uwe zusammen die Love Parade erleben, und so standen wir im Tiergarten. Um uns herum standen Hunderttausende junge Menschen, die meisten ziemlich schrill und mutig angezogen, viele auch halb nackt. So läuft man nur in Berlin herum, nicht im heimischen Dorf. Außer dem Herumgestehe geschah nichts. Hunderttausende Gesichter drückten aus: Hier müssen wir sein; hier sind wir; hier gehören wir hin – aber warum eigentlich?
Viele hatten ein neongrünes Band um den Hals, an dem eine ebenso neongrüne CD baumelte. Reklame eines Internetanbieters, der wahrscheinlich inzwischen auch schon dreimal seinen Namen und die Farbe gewechselt hat. Merkwürdigerweise hatten auch die meisten Polizisten diese Reklame-CD umhängen. Auch sie wollten wohl dazugehören.
Die Love Parade war gar keine Parade. Niemand paradierte. Auf der Straße des 17. Juni fuhren quälend langsam Lastwagen auf und ab, die dröhnende Musik verbreiteten. Die schwoll dadurch an und ab und mischte sich mit der Musik der anderen Lastwagen.
Wie gesagt: Manche jungen Leute sahen mit ihren Kleidern und Frisuren ja wirklich gut aus, abgesehen von dem leeren Blick. Aber was das Ganze sollte, wurde uns nicht klar. Zum Glück sollte in einer Stunde in der Marienkirche ein Orgelkonzert beginnen – also nichts wie weg!
Das erwies sich als fast unmöglich. Die Menschenmassen verstopften alles: die Zugänge zum S-Bahnhof Tiergarten und die Brücken auf dem Weg zu anderen S- und U-Bahnhöfen. Wir erreichten die Marienkirche mit Müh‘ und Not.
Das Orgelkonzert war wirklich gut und rettete den verkorksten Nachmittag. Vor dem letzten Stück erschien ein Pfarrer und sagte, dies sei eine Vesper, kein unverbindliches Konzert, und jetzt müssten wir eine Predigt und ein Vaterunser ertragen. Die Predigt war eine der besten, die ich je gehört hatte: aufrüttelnd, nachdenklich machend, aktuell und doch traditionell und ohne jedes modische dumme Zeugs. Da war keine Anspielung auf die Love Parade nebenan; das Wort Liebe fiel nicht; aber man wurde sehr direkt auf seine eigene Menschenliebe im Schatten der Gier nach Geld und Macht angesprochen.
Vor Schreck vergaß ich meine Brille in der Kirchenbank.
Also musste ich am Sonntagmorgen wieder hin, direkt nach dem Gottesdienst, solange die Kirche noch offen war. Auf dem Weg sah ich unwahrscheinliche Mengen von Getränkedosen im Tiergarten und Dutzende orange Fahrzeuge der Berliner Stadtreinigung, die die Abfälle zusammenschoben. Diese Abfallberge und die Effektivität der BSR waren eindrucksvoller als die sogenannte Parade am Vortag. Ohne die Marienkirche hätte ich das unvergessliche Spektakel nie gesehen. Meine Brille lag noch da.
Die Kirche wirkt heute wie ein Museumsstück in einer Umgebung, die völlig aus Betonklötzen besteht. Die DDR hatte mit dem Bauen dieser Klötze angefangen; aber nach der Wende ging es unverdrossen damit weiter, mit dem Alexa Shopping Centre als Tiefpunkt.
Dennoch hätte ich ohne unsere Neugier auf die Love Parade diese Kirche wohl nie besucht.
Der Berliner Senat aber fand die Abfallbeseitigung nach der Love Parade so aufwendig, dass er beschloss, im nächsten Jahr die Kosten auf die Veranstalter umzulegen. Sie wissen, wie das weiterging: Dem Duisburger Oberbürgermeister war alles recht, um die Love Parade in seine Stadt zu bekommen, was auch gelang. Ich fuhr an dem betreffenden Nachmittag auf der Autobahn zufällig ganz dicht daran vorbei, dachte an die giftgrünen CDs und die Marienkirche und wusste nicht, dass sich neben mir gerade die Menschen gegenseitig zerdrückten.
Ja genau! Ich war damals auch entsetzt und sehr enttäuscht, dass 1.000.000 Menschen keine politischen Botschaften hatten. Sehr bedenklich. Das waren die Anfänge der heutigen Gesellschaft einer Selbstdarstellung. Ja – sie fuhren nach Berlin um die Sau raus zu lassen…Hihi. Das Ergebnis dieser Untätigkeit erleben wir heute. Großes Gejammer auf alles Ebenen. Heuschrecken z.B. in der Friedelstr.54, aber auch sonst überall, schlecht bezahlte Arbeit und eine Politik für die Reichen. Keiner Widersprach. Viel zu lange.
Ein Orgelkonzert in der Marienkirche ist immer zu empfehlen. Ich habe jedes Jahr das Vergnügen die Organistin Martina mit ihrer Mutter durch Berlin zu kutschieren. Ohne Aufregung und Ego! Nur langsam genießen!