Keine Freiheit

Im Laufe meiner Taxi-Karriere habe ich ja schon so manch beson­dere Fahr­gäste gehabt. Einige haben sich echt selt­sam benom­men, ein Mann hatte gerade seine kleine Toch­ter verlo­ren, eine alte Frau erzählte mir von ihrer tiefen Einsam­keit, eine andere machte sich große Sorgen, weil ihr 15-jähri­ger Sohn mit einem Mann zusam­men war. Paare haben sich in meinem Taxi zerstrit­ten, ich habe Lebens­kri­sen mitge­kriegt, Ratlo­sig­keit, aber auch großes Glück. Das ganze Reper­toire, das das Leben so zu bieten hat.

Dazu gehört auch der hagere Mann, der mir heute am Haupt­bahn­hof ins Auto stieg. Ich schätzte ihn auf 60 Jahre, sehr kurze graue Haare und Bart­stop­peln, einge­fal­le­nes Gesicht, tiefe und dunkle Augen­höh­len, seine mit Furchen durch­zo­gene Haut war sehr blass. Er hatte zerschlis­sene Klei­dung an, manche würden ihn als herun­ter­ge­kom­men bezeich­nen. Aber ein Stadt­strei­cher war er nicht.
Wir fuhren nach Wilmers­dorf, dort wollte er gerne seine Kinder sehen, die schon lange keine Kinder mehr sind, wie er sagte. 15 Jahre lang hatte er keinen Kontakt.
“Die werden sich bestimmt freuen”, meinte ich.
“Wohl kaum. Ich will nur von außen rein­schauen, sie möch­ten mich ja nicht sehen.”

Er erzählte, dass er erst am Morgen aus dem Gefäng­nis in Hamburg entlas­sen worden war. All die Jahre hatte er geses­sen, weil er einem ande­ren das Leben genom­men hatte. Es tat ihm schon in dem Moment leid, als der gerade starb, aber er konnte es nicht mehr rück­gän­gig machen.
Er sagte, der andere hätte sein Leben verlo­ren, er selber aber auch. Seine Frau, seine Kinder, sein Job, seine Wohnung, sein gewohn­ter Alltag, die schö­nen Stun­den im Restau­rant, im Urlaub — alles war nun Vergan­gen­heit, eine zerstörte Exis­tenz.

Dies alles erzählte er ohne zu jammern. Schon sehr lange hat er sich damit abge­fun­den, weil er es ja doch nicht ändern konnte. Nun wollte er wenigs­tens einen Blick auf dieje­ni­gen werfen, die ihn mal geliebt haben, sagte er. Aber sie haben auch gericht­lich erwirkt, dass er sich ihnen nicht nähern darf. “Dabei will ich doch wissen, wie sie jetzt ausse­hen.”
Er tat mir leid. Ich kenne ja nicht die Hinter­gründe der Tat, viel­leicht hat er ja ein Fami­li­en­mit­glied getö­tet und deshalb wollen sie nun keinen Kontakt mehr. Es gibt Situa­tio­nen, an denen kann niemand etwas ändern, die sind für alle Seiten nur trau­rig und ohne Ausweg. Jeder muss seinen Weg finden, damit umzu­ge­hen.

Als ich ihn fragte, was er danach machen würde, musste er passen. In Berlin blei­ben will er nicht, weil er dann immer wieder in Versu­chung gera­ten würde, zu seinen Kindern zu fahren. Am nächs­ten Morgen würde er wieder nach Hamburg zurück fahren. Dort hat er jedoch keine Wohnung und nur wenige Kontakte. “Viel­leicht  springe ich auch von der Brücke, was weiß ich denn.”
Wie soll man auf sowas reagie­ren? Immer­hin hat er in Hamburg Kontakt zu Sozi­al­ar­bei­tern, die ihn in der neuen Frei­heit unter­stüt­zen. Aber die sind für ihn auch keine große Hilfe, das habe ich während des Gesprächs gemerkt.

Am Ziel ange­kom­men zahlte er. Er entschul­digte sich, dass er kaum Trink­geld geben könne, aber er müsste auf jeden Euro achten. “Kein Problem”, antwor­tete ich.
Er stieg aus, ging ein paar Schritte, blieb stehen und schaute nach den Stra­ßen­schil­dern. Es schien, als ob er zum ersten Mal dort wäre, dabei hatte er Jahre lang hier gelebt. Dann setzte er sich auf die Bank einer Bushal­te­stelle.

Während meiner Rück­fahrt in die Innen­stadt dachte ich noch lange über ihn nach. Auch wenn er jeman­den umge­bracht hat, so hat er doch das Recht, sein Leben weiter zu leben. Die Strafe aber geht für ihn weiter, auch wenn er nicht mehr im Knast sitzt.

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Podcast

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Thema Krise, Teil 2: Tobi und Aro versu­chen, Vorschläge für die Been­di­gung der Finanz­krise zu machen. Ob den Tag des Fall­schirm­sprin­gers, die Schaf­fung eines Neu-Vene­­digs in Berlin, Haus­fas­sa­den als Bild­schir­men oder Einfüh­rung der Skla­ve­rei — […]

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Elektrische Straßenbahn in Berlin

Als am 16. Mai 1881 erst­mals eine elek­trisch betrie­bene Bahn mitten auf der Straße fuhr, war das eine Welt­neu­heit. Bis dahin Jahren gab es nur Pferde-Stra­ßen­bah­nen, die Elek­tri­sche war eine Errun­gen­schaft, deren Ausmaß damals noch nicht abzu­schät­zen war. Heute sagt man, die erste elek­tri­sche Stra­ßen­bahn der Welt fuhr in Berlin. Tatsäch­lich aber ging sie einige Kilo­me­ter südlich der dama­li­gen Reichs­haupt­stadt in Betrieb, in “Groß-Lich­ter­felde”. […]

1 Kommentar

  1. Ich habe diesen Arti­kel eben erst gefun­den. Wegen solcher Texte mag ich Ihre Seite! Man schaut manch­mal in das Leben eines ande­ren Menschen und ist froh über das eigene Leben.

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