Hier ballte sich das ehemals neue Berlin
Im Ernst: Liegt die Mitte Berlins vielleicht gar nicht in Berlin Mitte, sondern irgendwo im Westen? Dort war ja auch vor Krieg und Mauerbau schon ein zweites Zentrum, und zwar ein ganz anderes. Heute nennt man es „City West“. Statt Schloss, „Zoo von Wilhelm zwo“, Gruft und Museen gab es hier damals schon das Kaufhaus des Westens, einen echten Zoologischen Garten und alle paar Meter einen U-Bahn-Knotenpunkt. Hier beginnt nicht Unter den Linden, sondern der Kurfürstendamm, die weltberühmte Einkaufsstraße. Die Querstraßen zogen seit jeher Künstler, Schriftsteller und andere Querdenker an. Zum Beispiel hat Christopher Isherwood hier eine Zeitlang gelebt. Sein Roman Goodbye to Berlin ist heute noch lesenswert.
Damit es wenigstens ein bisschen monarchistisch wurde, regte Kaiser Wilhelm II. den Bau einer Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche an. Seit die weitgehend zerstört und ganz anders wieder aufgebaut wurde, ist sie eine Sehenswürdigkeit geworden. Hier muss alles modern sein und war es immer schon.
Am Bahnhof Zoo, bekannt durch den Roman Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, kreuzen sich die S-Bahn und zwei U-Bahn-Linien. Zu Fuß ist man dann schnell bei dieser Gedächtniskirche und dem in den 1960er Jahren in ganz Deutschland bewunderten Europa-Center. Einige Schritte weiter gibt es auf dem Wittenbergplatz, neben dem KaDeWe, einen besonders schönen U-Bahnhof, wo sich gleich drei unterirdische Linien treffen. Südlich vom Bahnhofsgebäude erhält man die besten Pommes Frites von ganz Berlin, immer handgeschnitten aus frischen Kartoffeln der Jahreszeit.
Die U-Bahn-Linie nach Pankow taucht kurz dahinter aus dem Untergrund auf und wird zur Hochbahn. Am Nollendorfplatz treffen sich dann vier U-Bahn-Linien auf drei Stockwerken. In unmittelbarer Nähe schließen nach und nach zahllose Kneipen und Restaurants für Männer, die Männer lieben, weil sie nicht mehr nötig sind.
Danach drängt auch die U-Bahn-Linie nach Kreuzberg ans Licht: Sie fährt mitten durch ein fünfstöckiges Wohnhaus und kommt dort aus dem zweiten Stock zum Vorschein, um ihren Weg über der ehemaligen Akzisemauer als Hochbahn fortzusetzen. Die Bewohner schämen sich dessen anscheinend, denn sie haben ihr Haus bei Google Street View als einziges der ganzen Dennewitzstraße verpixeln lassen.
Zu Zeiten der Mauer war die Gedächtniskirche mit Europa-Center und Kurfürstendamm so ungefähr das Einzige, was Menschen aus Westeuropa von Berlin kannten. So modern und blau, diese Kirche, solcher Luxus in diesen Geschäften! Und all die schicken Leute, die man hier sehen konnte! Und zwei Uhren, so modern, dass man sie gar nicht ablesen konnte! Und drinnen im Europa-Center ein Terrassenkaffee, in dem man sich fühlte, als säße man draußen! Und in der Lebensmittelabteilung des KaDeWe kann man Austern essen!
Nur: wenn man all das ein-, zweimal gesehen hat, behält allein die Pommes-Frites-Bude am Wittenbergplatz ihren Reiz. Ich esse da gern eine Portion, wenn ich ohnehin zum Umsteigen hier bin. Austern kann man viel besser bei Rogacki in der Wilmersdorfer Straße essen, und all die Geschäfte strahlen tödliche Langeweile aus. Na ja, die Wasseruhr im Europa-Center ist technisch wirklich interessant, und man kann sie gut Frau und Kindern erklären.
Manchmal muss man dem Volk aufs Maul schauen. Dazu muss ich aber ausholen und kurz vom Reichstagsgebäude schreiben, das einige Kilometer weiter weg liegt.
Christo hatte jahrzehntelang den Plan nicht aufgegeben, einmal den Reichstag zu verhüllen. Nach der Wende war es dann endlich so weit, aber der Widerstand vor allem aus konservativen Kreisen war groß. Manche Reden von Politikern der CDU und CSU erinnerten an Reden über „entartete Kunst“ aus vergangenen Zeiten. Weil das betroffene Gebäude Sitz des Deutschen Bundestags war, musste der darüber entscheiden, ob es dieses Kunstprojekt geben dürfe oder nicht. Die Debatte vor der endgültigen Abstimmung werde ich nie vergessen. Gesundes Volksempfinden gepaart mit Dummheit, Unwissen und Angst. „Würde des Hauses“ und so weiter. Ich war damals froh, nicht mehr in diesem Land leben zu müssen.
Aber eine Mehrheit war für Christos Plan, und als man das Resultat sah, gaben auch die hartnäckigsten Konservativen zu, dass sie sich geirrt hatten. Der silbern verhüllte Reichstag gehörte zum Schönsten, was man überhaupt jemals in Berlin gesehen hatte. Christo wurde auf Knien gebeten, das Projekt länger laufen zu lassen. Aber es war für genau vierzehn Tage geplant, und er ließ sich nicht erweichen.
Damals gab es in O-Ton-Interviews im Rundfunk nur eine einzige Gegenstimme. Ich erinnere mich genau. Der damalige Bundes-Kohl sagte mit seinem Akzent: „Isch sehe mir das nischt an. Isch brauche sowas nischt.“ Und dann verkündete sein Sprecher, dass der Bundeskanzler lieber die Zeit nutzt, um im Europa-Center eine Tasse Kaffee zu trinken.
Der Kanzler, der den Regierungssitz nach Berlin verlegt hatte! Dass er den Anblick eines Kunstwerkes nicht ertragen wollte, ist mir egal. Aber diesem Mann fiel zu ganz Berlin nichts anderes ein, als dass er im Europa-Center eine Tasse Kaffee trinken könnte. Für ihn war das also der Mittelpunkt Berlins, ja, der einzige Punkt, den er außer dem Brandenburger Tor überhaupt kannte. Für meine Eltern übrigens auch.
Nicht mit mir! Wenn ich Austern essen will, finden Sie mich bei Rogacki, wo es danach auch noch eine sehr schmackhafte und reichhaltige Fischsuppe gibt. Wenn ich beim Essen an Berlin denken will, finden Sie mich im Marjellchen. Wenn ich tatsächlich mal in solchen Läden einkaufen will, wie es sie um die Gedächtniskirche gibt, fahre ich in die Schlossstraße in Steglitz. Auch dort gibt es S- und U-Bahnhöfe, auch dort teilweise mehrstöckig, sodass man schnell weg kann, und alle Ladenketten sind vertreten. Wenn ich Wilhelm den Großen bewundern will, schaue ich mir das Tempelchen bei der Porta Westfalica an; aber ich will ihn eigentlich nicht so oft bewundern. Es reicht mir schon, dass er immer daneben liegt, wenn ich Luise in ihrem Mausoleum aufsuche. Und eine Tasse Kaffee kann man nun wirklich an hunderten Orten in Berlin besser trinken als im Europa-Center.
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