Schwerbelastungskörper

Germania bleibt

Auch nicht nötig war nach neueren Einsichten der Schwerbelastungskörper. Eine Zeitlang hat man darum seine Existenz nicht an die große Glocke gehängt; nun versucht man krampfhaft, ihn als Sehenswürdigkeit anzupreisen. Als Sehenswürdigkeit wofür?
Hitler wollte nach dem Endsieg Berlin zu Germania umbauen lassen. Speer machte die Entwürfe, und hier und da wurde etwas gebaut, das zum Gesamtplan passte.
Zum Glück nie gebaut wurden die Halle des Volkes, die Prachtstraße von Norden nach Süden und der geplante Südbahnhof. Die Halle des Volkes wäre so groß geworden, dass sich darin Wetter gebildet hätte, mit Wind und Nieselregen. Fragen Sie einen Meteorologen, wenn sie es nicht glauben! Es hätte gut sein können, dass der Führer im Nebel verschwunden wäre, wenn alle jubelten. Der Südbahnhof wäre so groß geworden, dass man die Wege beim Umsteigen kaum geschafft hätte. Abgesehen davon, dass das alles nicht funktioniert hätte, wäre ein großer Teil der Stadt für diesen Unsinn abgerissen worden.
Auch nicht gebaut wurde ein Triumphbogen, der endlich mal richtig groß sein sollte. Also richtig groß, viel größer als das mickrige Ding von Napoleon in Paris. Nun ist aber, wie schon Friedrich Wilhelm I. mit seiner ersten Garnisonkirche einsehen musste, der Brandenburger Boden entweder sandig oder sumpfig, und selbst wenn er oben sandig ist, kann es weiter unten problematische Grundwasseradern geben. Wenn man nicht aufpasst, versinkt so ein Triumphbogen im Untergrund oder fällt zuerst langsam, dann immer schneller um, was bei der Größe und Lage allerlei Kollateralschäden verursacht.
Wenn man keine Erfahrung hat, muss man Experimente machen. Zum Glück war Speer auch Minister und hatte genug Kriegsgefangene zur Verfügung. Also rechnete er aus, wie schwer ein Fuß des Triumphbogens auf den Boden drücken würde, und seine Kriegsgefangenen stellten einen Betonklotz mit dem entsprechenden Gewicht her. Er ist vierzehn Meter hoch wie ein Haus mit fünf Stockwerken, und sein Fundament reicht achtzehn Meter tief in den Boden. Umgefallen ist er bis heute nicht, was für den Boden spricht. Er ist massiv, weil er ja schwer sein soll.
Als es noch kein Internet gab, wollten wir ihn suchen. Ich wusste nur, dass er in der Nähe der General-Pape-Straße sein sollte. Erstaunlicherweise kannten ihn die Einwohner der Gegend aber nicht, auch nicht, als wir ihm schon recht nahe waren. „Sind sie Freunde der Zeit?“ fragte ein Lehrertyp nach einem Blick auf unsere Lederjacken und Stiefel. Auch Mütter, die ihren Kinderwagen täglich am Schwerbelastungskörper vorbeischoben, wussten nichts von einem riesigen fensterlosen Betonklotz.
Aber er steht noch. Daneben wurden Wohnhäuser gebaut, also ist Sprengung ausgeschlossen. Stücke herausbrechen kann man auch nicht, weil er rund ist. Wenn Sie es nicht glauben, versuchen Sie einmal, ein Stück aus einer ungeschälten Wassermelone zu beißen! Mit Presslufthämmern zerkleinern würde Monate, wenn nicht Jahre dauern und die Anwohner verrückt machen.
Nachdem es das Internet gab, erschienen nach und nach immer mehr Beschreibungen und Bilder, und wer sie betrachtete, wurde immer weniger für einen „Freund der Zeit“ gehalten.
Heute ist der Schwerbelastungskörper ein anschauliches Beispiel für das, was in Berlin immer wieder geschieht:
Da gibt es geheimnisvolle Orte, wo gewisse Linien ihr trauriges Ende finden. Zunächst kennt fast niemand diese Orte; dann erscheinen WWW-Seiten und Bücher mit schönen Bildern; dann wird alles eingezäunt, damit sich ungeschickte Besucher nicht verletzen; dann gibt es inoffizielle Führungen, dann offizielle; zum Schluss entdeckt ein Investor oder ein Bezirk den Ort und baut etwas schwer Subventioniertes, das nachdenklich machen soll – oder der Ort verschwindet unter einem neuen Einkaufszentrum. Wie beim Tacheles, einer ehemals von Punkern und Künstlern bewohnten Ruine eines Kaufhauses. Wie beim Vergnügungspark am Plänterwald mit seinen ausgestopften Sauriern und verrosteten Achterbahnen. Wie auf dem Flughafen Tempelhof, dessen Landebahn-Beleuchtung ordentlich eingezäunt und beschriftet ist. Wie bei den teilweise gebauten, aber nie in Betrieb genommenen U-Bahn-Linien, deren hoffnungsvolle Bahnhöfe an der Schlossstraße in Steglitz und in Jungfernheide sichtbar vor sich hin warten.
Den Schwerbelastungskörper konnte man früher einfach besuchen und anschauen. Dann wurde er eingezäunt und, ja, wirklich, restauriert! Eine Schautafel faselte in krummen Sätzen etwas von „erlebbarer Geschichtserinnerung“ oder so. Oben drauf kam eine neue, glatte Betonschicht gegen Verwitterung. Ritzen wurden ordentlich zugeschmiert. Netze wurden angebracht, damit Besuchern keine abbrechenden Betonteile auf den Kopf fallen können. Wenn darauf Vögel sitzen, fällt einem etwas anderes auf den Kopf. Ein Teil des Sockels wurde freigelegt, und man kann in Messräume mit verrosteten Installationen schauen. Daneben gibt es einen kleinen, neu gebauten Seminarraum mit sechs oder acht Designerstühlen für Veranstaltungen und ein freistehendes Treppenhaus mit 87 Stufen, damit man von oben die neue Betonschicht bewundern kann. Damit sich der Eintritt lohnt, ließ man den Zaun zuwachsen. Man kann den Schwerbelastungskörper nun nur sehen, wenn man den Eingang findet. Da aber fast niemand kommt, braucht man nun keinen Eintritt mehr zu bezahlen, man muss nur wissen, wann der Eingang geöffnet ist. Ein Mann muss da dann immer sitzen und aufpassen, damit man auf der Treppe und in den freigelegten Messräumen keinen Unsinn macht. Die beiden Glastüren, durch die man hindurch muss, sind dem Durchzug nicht gewachsen, also hat der Mann auch noch eine Aufgabe als Schleusenwärter.
Das Ganze hat 913.750 Euro gekostet – sechs mal so viel wie geplant. Hoffentlich kann man die gesammelten Erfahrungen verwenden, wenn demnächst Schöneflug-Wunderland für immer eingemottet wird! Im Kleinen könnte man das System aus Zaun, Zugang und Aufsicht auch direkt auf die gefährliche Wiedervereinigungswippe beim Schloss übertragen.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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1 Kommentar

  1. Na ja, was die Kosten von derartigen Projekten in der Hauptstadt betrifft, halte ich mich nach 40 Jahren „Nix-wie-weg-aus-Berlin“ mal kusch.

    Aber als Kinder haben wir dort in und auf dem Klotz gerne gespielt und herum getollt, während unsere Eltern und Großeltern im Vereinshaus der Kleingartenanlage „Steingrube“ am saufen waren.
    Einen Katzenkopf gab es trotzdem, weil ungefährlich war das da damals nicht … :-) …

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