Die DDR bleibt
Als ich selbst lesen konnte, war eines meiner ersten Bücher ein Kinderbuch meiner Mutter: Hans und Kathrin entdecken Berlin. Damals war der Funkturm neu und wurde im ganzen Land bewundert, und Hans und Kathrin wollten unbedingt hin. Der Funkturm steht am Westkreuz und unter Denkmalschutz und sieht aus wie die obere Hälfte des Eiffelturms. Wenn man ihn mal nicht länger nötig hat, kann man ihn einfach auseinanderschrauben und die denkmalgeschützten Teile irgendwo einlagern.
Ulbricht, der schon in Potsdam einen Wolkenkratzer gebaut hatte, wollte auch in Ost-Berlin ein zentrales Hochhaus haben. Die Post begann gleichzeitig auf den Müggelbergen einen Funkturm zu bauen, der aber in den Flugverkehr von und nach Schönefeld geragt hätte. Wenn die Post sich durchgesetzt hätte, hätte man vielleicht den neuen Flughafen BER ganz woanders hinbauen müssen. Auf den Müggelbergen steht nur ein Stummel dieses Projekts, eine Art Niedrigragkörper.
Nach langem Hin und Her entstand dann der Plan für einen zentralen Funkturm mitten in der Stadt, neben der Marienkirche, statt des Hochhauses. Ein Standortvorteil war, dass dort der Kiesboden so stabil war, dass das Fundament keine sechs Meter tief zu sein brauchte, ein Drittel des Fundaments des Schwerbelastungskörpers. Ein weiterer Standortvorteil war, dass der Turm in den Flugverkehr von und nach Tegel ragt. Tegel lag ja an der anderen Seite des Eisernen Vorhangs.
Es gab damals viel Kritik an Höhe und Aussehen des Turmes; aber eigentlich ist er doch ganz schön geworden und hat sich sowohl als Fernsehturm bewährt als auch als Wahrzeichen der Stadt. Außerdem macht er Reklame für die christliche Religion: bei Sonnenschein erscheint auf der Kugel ein großes Kreuz. Das liegt an der Reflexion der Fensterrahmen und war auch zu Ulbrichts Zeiten schon so. Auf Luftbildern sieht er aus wie eine riesige Stecknadel in der Landkarte: „Hier ist der Mittelpunkt.“ Wobei nicht ganz deutlich ist, ob diese Stecknadel sich selbst meint oder die Marienkirche.
Der Turm war der zweithöchste Fernsehturm der Welt, der höchste Europas und ist immer noch das höchste Gebäude Deutschlands. Als ich das letzte Mal in der Eingangshalle war, stand allerdings auf der Informationstafel: „zählt zu den 16 höchsten Türmen Europas.“ Vielleicht wird es Zeit für eine programmierbare Leuchtschrift.
Es lohnt sich, nicht nur die Aussichtsplattform zu besuchen, sondern vorher einen Tisch im Restaurant zu reservieren und sich Zeit zu nehmen. Während man isst, dreht sich unter einem die Metropole. Mir wurde gesagt, dass sie sich seit der Wende viel schneller dreht als vorher, weil den Gästen nach einer Umdrehung langweilig wird und sie die Plätze frei machen. Nehmen Sie sich dennoch Zeit!
Als ich in den Siebziger Jahren in Ost-Berlin war, hingen dort wie immer noch in ganz Berlin große Stadtpläne an den Haltestellen. Nur war da auf West-Berliner Gebiet kein einziges Gebäude und keine einzige Straße eingezeichnet, nur Bodenprofil, Wald und Wasser. Die Mark Brandenburg kurz nach der Eiszeit! Die Zivilisation hörte auf diesen Plänen genau an der Mauer auf. Jedoch konnte jeder Bürger der DDR sich vom Fernsehturm aus überzeugen, dass West-Berlin ziemlich vollgebaut und nachts daran erkennbar war, dass es bis zur Mauer überall anders leuchtete als das heimische Ost-Berlin mit seinem vom Mond aus erkennbaren gelben Natriumdampficht. Weißlicher wegen der Gas-Glühstrümpfchen und der modernen Quecksilberdampflampen, aber hinzu kam etwas, das man vom Mond aus nicht gut unterscheiden konnte: Überall bunte Lichtreklame. Es kann also nicht sein, dass die Regierung der DDR die Existenz einer Zivilisation hinter der Mauer geheim halten wollte. Mir wurde nie klar, warum diese Stadtpläne so selektiv waren.
Wie dem auch sei, die DDR ist samt Palast der Republik weg; man hat so schnell wie möglich in Ost-Berlin auch überall bunte Lichtreklame angebracht – doch der Fernsehturm ragt immer noch in den Tegeler Flugverkehr und kommt in jedem Film vor, bei dem man erkennen soll, dass er in Berlin spielt. Man kann ihn ja auch weder auseinanderschrauben noch sprengen. Darum will man den Tegeler Flugverkehr gern abschaffen; aber dazu müsste man auf die Erlebnistouren „quer über das 960 Hektar große BER-Gelände“ verzichten. Oder den Flughafen Tempelhof wieder in Betrieb nehmen.
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