Der Stern in der Parforceheide

Die Welt in der Mitte zwischen Berlin und Pots­dam

Den Stern in der Parforce­he­ide dage­gen kennt fast niemand, obwohl er alles andere als einsei­tig ist. Er ist sogar so etwas wie die ganze Welt, die im Humboldt-Forum frak­tal und mit viel Neusprech und magi­scher Formel erst geschaf­fen werden soll. Man muss nur gut hinschauen. Das ist nicht leicht, aber da Sie hier immer noch mitle­sen, werden Sie es können. Wir nähern uns von Norden.
Neun Kilo­me­ter nörd­lich vom Stern muss diese geheim­nis­volle Stufe im Seespie­gel des Wann­sees sein, die man auf dem Mauer­weg mit der Fähre über­win­det. Der Mauer­weg kreuzt die gerade Linie von dort bis zum Stern zwei­mal, bewegt sich aber zwischen­durch unge­fähr zehn­mal auf sie zu und genau so oft wieder weg. So gril­lig verläuft er sonst nirgends, was schon zeigt, wie wich­tig diese Linie ist.
Etwas näher beim Stern schaut ein riesi­ger Löwe aus Zink erho­be­nen Haup­tes in die Welt. Man macht derzeit kein Aufhe­bens von ihm, aber man hat ihn auch nicht in den Tier­park verfrach­tet. Wenn Sie ihn besu­chen wollen, finden Sie ihn einen Stein­wurf nörd­lich vom auf allen Stadt­plä­nen ange­ge­be­nen und gut ausge­schil­der­ten Haus der Wann­see­kon­fe­renz. Er gibt zu denken, wie es mit den von Preu­ßen geführ­ten Krie­gen zuging.
Der Solda­ten­kö­nig Fried­rich Wilhelm I. wollte ja eine reine Vertei­di­gungs­ar­mee. Sein Sohn Fried­rich II. benutzte diese für zahl­rei­che Erobe­rungs­kriege, und nach seinem Tode ging das Krieg­füh­ren unver­dros­sen weiter, bis die Jungs jubelnd in den ersten Welt­krieg zogen. „Weih­nach­ten sind wir zurück“, riefen sie. Und nur ein Vier­tel­jahr­hun­dert Jahre später schrie Goeb­bels im Sport­pa­last: „Wollt ihr den tota­len Krieg?“ – Wer das darauf folgende „Jaaa“ einmal gehört hat, erschrickt, wenn er nur daran denkt.
In der Peri­ode dazwi­schen gab es die Befrei­ungs­kriege – Napo­leon, Kreuz­berg­denk­mal, Groß­bee­ren und so – und ein immer wieder auffla­ckern­des Geran­gel mit Nach­bar­län­dern. Unter ande­rem ging es um eine Jahr­hun­derte alte Frage: Seit 1458 stand auf Papier, dass Schles­wig-Holstein “ewich tosa­mende unge­delt” blei­ben sollte. Nur lagen die beiden Teile in verschie­de­nen Macht­blö­cken: dem däni­schen König­reich und dem im Laufe der Zeit mehr­fach umge­form­ten deut­schen Kaiser­reich. Eine ange­mes­sene Behand­lung der Schles­wig-Holstei­ni­schen Frage würde den Rahmen dieses Buches spren­gen. Der Vier­mächs­tes­ta­tus von Deutsch­land und Berlin war nichts dage­gen.
Als sich die Dänen nach einer gewon­ne­nen Schlacht Schles­wigs sicher glaub­ten, stell­ten sie diesen Löwen in Flens­burg auf. Er entstammt dem däni­schen Wappen, sitzt hier aber beson­ders stolz. Als die Preu­ßen mit der Schlacht bei den Düppe­ler Schan­zen, dänisch: Dybbøl skan­ser, Schles­wig zurück­er­ober­ten, schaff­ten sie den Löwen als Beute nach Berlin und stell­ten ihn im Zeug­haus auf.
Aus Sieges­freude wurde ein ganzer Stadt­teil beim Wann­see „Düppel“ genannt. So etwas war offen­bar damals üblich. Am lieb­li­chen Ufer des Müggel­sees gibt es im Märki­schen Sand ein „Neu-Helgo­land“ zur Erin­ne­rung an den Erwerb des felsi­gen Helgo­lands im stür­mi­schen Meer. – Aber zurück zum Löwen!
Als das Zeug­haus umge­baut wurde, reiste er in die neue Garten­stadt Lich­ter­felde. Aber nach 1945, als sich die Fran­zo­sen über den Namen Belle-Alli­ance-Platz und Sieges- und Frie­dens­säu­len längst vergan­ge­ner Kriege ärger­ten, holten die Dänen den Löwen nach Kopen­ha­gen zurück. Und wohin da? Ins Zeug­haus natür­lich, bis auch dies umge­baut werden musste.
Nach viel Strei­te­reien steht er aber seit 2011 wieder an seinem ange­stamm­ten Ort in Flens­burg, und jeder sieht ihn als Symbol für etwas ande­res an, je nach Geschmack für einen oder mehrere Siege bezie­hungs­weise Nieder­la­gen, einen uralten Besitz­an­spruch oder die deutsch-däni­sche Freund­schaft.
Hier am Wann­see jedoch steht in einer nach dem däni­schen Alsen benann­ten Villen­ko­lo­nie seit 1874 eine Zink­ko­pie des Löwen, die man gemacht hatte, als der echte zufäl­lig im nahen Lich­ter­felde zur Verfü­gung stand.
Kriege, als ob sich kleine Kinder um ein Stoff­tier zanken.
Wie krie­ge­risch war Preu­ßen denn eigent­lich nach dem Tode des fried­lie­ben­den Solda­ten­kö­nigs? Schauen Sie mal in die Geschichts­bü­cher: Preu­ßen führte deut­lich weni­ger Angriffs­kriege als zum Beispiel England oder Frank­reich.
Aber nun kommen wir, ein paar Schritte weiter Rich­tung Stern, nicht um das Haus der Wann­see­kon­fe­renz herum. In dieser Villa wurde auf dieser unsäg­li­chen Konfe­renz die „Endlö­sung der Juden­frage“ gere­gelt.
Die preu­ßi­schen Tugen­den, aus Holland impor­tiert vom Großen Kurfürs­ten, den Unter­ta­nen abver­langt und mit fast über­mensch­li­cher Konse­quenz vorge­lebt von seinem Enkel Fried­rich Wilhelm I., aufs mensch­li­che Maß zurück­ge­führt und schil­lernd vorge­lebt von dessen Sohn Fried­rich II., inzwi­schen mehr oder weni­ger verin­ner­licht vom Adel, von den Bürgern und von der Beam­ten­schaft – diese Tugen­den konn­ten das Aufkom­men der Nazis und die abscheu­li­chen Verbre­chen dieses Regimes nicht verhin­dern. Schlim­mer noch: eben diesen Tugen­den werden der Gehor­sam und der Ordnungs­sinn zuge­schrie­ben, der die Vernich­tungs­ma­schi­ne­rie über­haupt erst möglich mach­ten.
Näher am Stern finden wir am klei­nen Wann­see die Gräber von Hein­rich von Kleist und Henri­ette Vogel an der Stelle, wo er mit ihrem Einver­ständ­nis erst sie, dann sich selbst erschoss. Sie hatte Krebs. Er war Preuße durch und durch und gilt bis heute als einer der größ­ten deut­schen Dich­ter. Fried­rich II. hatte als Junge beschlos­sen, dass Deutsch­land keine nennens­werte Lite­ra­tur hat, und im Alter weigerte er sich, sich davon zu über­zeu­gen, dass sich das in seiner Regie­rungs­zeit geän­dert hatte. Die deut­sche Lite­ra­tur der Aufklä­rung war ihm zu bürger­lich. Ihm, der in seinem eige­nen Thea­ter­stück Der Mode­affe so bösar­tig mit seinen Stan­des­ge­nos­sen abge­rech­net hatte! Kleist aller­dings war erst neun Jahre alt, als Fried­rich starb.

Zwei Kilo­me­ter südwest­lich, genau im Norden vom Stern, liegt Kohl­ha­sen­brück. Ja, Kleists Michael Kohl­haas stammt von hier:

An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sech­zehn­ten Jahr­hun­derts, ein Roßhänd­ler, namens Michael Kohl­haas, Sohn eines Schul­meis­ters, einer der recht­schaf­fens­ten zugleich und entsetz­lichs­ten Menschen seiner Zeit. – Dieser außer­or­dent­li­che Mann würde, bis in sein drei­ßigs­tes Jahr für das Muster eines guten Staats­bür­gers haben gelten können. Er besaß in einem Dorfe, das noch von ihm den Namen führt, einen Meier­hof, auf welchem er sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte; die Kinder, die ihm sein Weib schenkte, erzog er, in der Furcht Gottes, zur Arbeit­sam­keit und Treue; nicht einer war unter seinen Nach­barn, der sich nicht seiner Wohl­tä­tig­keit, oder seiner Gerech­tig­keit erfreut hätte; kurz, die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausge­schweift hätte. Das Recht­ge­fühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.

„Einer der recht­schaf­fens­ten zugleich und entsetz­lichs­ten Menschen seiner Zeit“ – musste nicht Fried­rich seinen eige­nen Vater genau so erfah­ren? Und hat er selbst nicht den Müller Arnold davor behü­ten wollen, ein Michael Kohl­haas zu werden und dabei zu seiner eige­nen Schande aus Recht­schaf­fen­heit in den Rechts­gang einge­grif­fen?
Das Drei­ecks­ver­hält­nis zwischen dem einzel­nen Deut­schen, dem Recht und der Obrig­keit ist kein gleich­gül­ti­ges. Kein gebil­de­ter Mensch kann darüber nach­den­ken, ohne an Fried­rich Wilhelm und seinen Sohn, an Fried­rich und seinen Müller und an Michael Kohl­haas und seine Pferde zu denken und mit ihnen zu leiden.
Um Kohl­ha­sen­brück herum liegen merk­wür­dige Exkla­ven und Ausstül­pun­gen aus der Zeit der Mauer beson­ders dicht beiein­an­der: Klein Glie­ni­cke, Stein­stü­cken und Albrechts Teerofen. So wie Baum­schu­len­weg kein Weg ist, sondern ein Stadt­teil, ist Albrechts Teerofen kein Ofen, sondern ein Orts­teil. Er stülpt sich aus West-Berlin wie Ihr linker Daumen aus Ihrer Hand, wenn Sie auf den Hand­rü­cken schauen. Kohl­ha­sen­brück liegt bei der Daumen­wur­zel. Da, wo der Daumen­na­gel ist, führte die Auto­bahn vom Berli­ner Ring zum Funk­turm kurz über West-Berli­ner Gebiet, dann wieder nach Bran­den­burg, um erst in der Gegend des Zeige­fin­gers endgül­tig Berlin zu errei­chen. Auf dem Daumen­na­gel war die West-Berli­ner Kontroll­stelle für den Inter­zo­nen­ver­kehr. Die drei Kilo­me­ter Auto­bahn durch die DDR zwischen Daumen und Zeige­fin­ger waren natür­lich ein enor­mes Sicher­heits­ri­siko. Dort hätten massen­haft West­ler ihr Auto ille­gal auf der Auto­bahn stehen­las­sen können, um über die Leit­planke klet­ternd den Osten zu über­flu­ten. Oder so. Darum hat die DDR irgend­wann die Auto­bahn um den Daumen herum verlegt, sodass bei Drei­lin­den die Kontroll­stel­len Ost (im Süden) und West (im Norden) unge­fähr­lich und brüder­lich beiein­an­der liegen konn­ten, bekannt als Check­point Bravo.
Heute können Sie beim Daumen­na­gel einen ausge­stopf­ten Kontroll­punkt West und eine halb verfal­lene Auto­bahn­brü­cke über den Teltow-Kanal bewun­dern. Wenn Sie sich über die Brücke wagen, was gefähr­li­cher aussieht, als es ist, können Sie auf einer vor Jahr­zehn­ten aufge­ge­be­nen Auto­bahn-Trasse nach Drei­lin­den wandern. Der Beton ist weg, die Natur wieder da; aber die Bäume sind noch klein.

Theo­dor Fontane ahnte noch nichts von diesem Kontroll­punkt:

Dieser Name Drei­lin­den war übri­gens keine Neuschöp­fung und exis­tiert bereits seit 1833, in welchem Jahre das uralte schon eingangs erwähnte Forst­eta­blis­se­ment Heide­krug, mit Rück­sicht auf drei alte, vor seiner Tür stehende Linden, die Bezeich­nung Forst­haus Drei­lin­den erhal­ten hatte. Bald danach empfing auch die Forst selber eben­diese Bezeich­nung, so dass wir seit­dem, ein und demsel­ben Namen drei­fach begeg­nend, eine Forst von Drei­lin­den, ein Forst­haus von Drei­lin­den und endlich drit­tens ein Jagd­haus von Drei­lin­den unter­schei­den müssen. Die Forst spricht für sich selbst, das Forst­haus ist Förs­te­rei, das Jagd­haus aber prinz­li­che Villa.

Von Norden kommend, haben wir nach diesem fili­gra­nen Grenz­ge­biet bei Kohl­ha­sen­brück unser Ziel schon fast erreicht. Wären wir von Westen gekom­men, hätten wir von Groß­bee­ren an all diese Verkehrs­bau­werke aus den Zeiten Hitlers, der DDR mit ihren Tran­sit­stre­cken, der neuen Bundes­län­der und der Haupt­stadt­nähe meis­tern müssen: ein gran­dio­ses Frei­licht­mu­seum von Verkehrs­pla­nun­gen, die sich gegen­sei­tig den Weg versper­ren, gele­gen im lieb­li­chen, menschen­lee­ren Bran­den­burg. Von Süden aus ist die Heraus­for­de­rung noch größer: Da durch­set­zen Kreu­zungs­bau­werke, Sack­gas­sen, Kreis­ver­kehre, Fußgän­ger­stra­ßen und eine Stra­ßen­bahn­li­nie mit Wende­schlei­fen ein ehemals futu­ris­ti­sches Wohn­ge­biet. Die schnur­ge­rade Wald­schneise von Kohl­ha­sen­brück genau nach Süden bis zum Stern heißt Kohl­ha­sen­brü­cker Gestell. Die ebenso schnur­ge­rade ehema­lige Schneise vom Stern nach Südwes­ten heißt Stern­straße und hat wegen solch moder­ner Verkehrs­pla­nung sechs Enden.
Aber den Stern selber kennt fast niemand.
Ich hatte bei Chris­tian Graf Kroc­kow gele­sen, dass irgendwo bei Pots­dam das einzige Schloss steht, das der spar­same, beschei­dene Solda­ten­kö­nig Fried­rich Wilhelm I. über­haupt gebaut hatte, und dass man sich das anse­hen muss, will man diesen unge­wöhn­li­chen König verste­hen. Ich wusste auch, dass es Jagd­schloss Stern heißt. Inter­net gab es damals noch nicht, wohl aber diesen ganzen neuge­bau­ten Stadt­teil von Pots­dam, der Stern heißt. Immer wieder wurde ich von Pots­da­mern zum Stern-Center geschickt, dem unsäg­li­chen, nach der Wende gebau­ten Einkaufs­zen­trum. Das kennt jeder. Wenn Sie das Jagd­schloss oder den Stern suchen, passen sie auf, damit sie nicht dort landen.
Neulich widmete der Rund­funk Berlin-Bran­den­burg dem echten Stern zehn Minu­ten. Der Beitrag war gut recher­chiert, schön gefilmt, und am Ende wurde mit Worten und Land­karte erklärt, wie man bis auf die letz­ten zwei­hun­dert Meter mit dem Auto hinkommt. „Und dann wird es kompli­ziert. Dann achten Sie auf Ihr Navi!“
Als ich mit Uwe von Westen kam und in der rich­ti­gen Stra­ßen­bahn saß, Linien 92 und 96 führen hin, riet uns jemand, der sich auskannte: „Sie stei­gen an der Gauß­straße aus, kurz nach­dem die Bahn einen Haken schlägt, und gehen in der ursprüng­li­chen Fahrt­rich­tung gera­de­aus. Wenn Sie denken, es geht nicht mehr weiter, sehen Sie im Gebüsch ein drei­far­bi­ges Turn­reck. Da gehen Sie beherzt drun­ter durch, und schon sind Sie da. Nur nicht vorher aufge­ben.“ – So war es auch, und so ist es noch immer.
Da hat man auf den letz­ten hundert Metern jegli­che Hoff­nung verlo­ren und steht dann doch auf einmal im Zentrum eines echten Jagd­sterns, an dem sich weder Moritz von Nassau noch der Große Kurfürst land­schafts­ar­chi­tek­to­nisch ausge­lebt hat und wo niemand drin­gend eine erigierte Säule errich­ten musste. Fried­rich Wilhelm I. wollte hier einfach nur jagen, und da es damals die Stra­ßen­bahn noch nicht gab, brauchte er einen Ort für Gelage nach erfolg­rei­cher Jagd und zum Schla­fen. Ein Jagd­schloss eben. Es liegt für dama­lige Begriffe, als die Geschwin­dig­keit einer Kutsche ein paar Kilo­me­ter pro Stunde betrug, jwd, was wegen des Wildes auch so sein musste. Aber man steht mitten zwischen Pots­dam und Berlin, zwischen Alt und Neu, zwischen deut­scher Lite­ra­tur und Erin­ne­run­gen an schreck­lichste Kultur­lo­sig­keit.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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Zufallstreffer

Kein Paradies

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Sie sind noch immer da. Wieder da. Sie waren nie weg. Seit damals. Mai 1945. Noch im selben Jahr hatte niemand mehr dazu gehört. Keiner hatte etwas gewusst. Oder gese­hen. Nicht die zerschla­ge­nen Fens­ter jüdi­scher […]

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