Oranienburger di notte

Italien, südeuropä­isches Flair, Cafés, Straßen­musik. Hackescher Markt. In der Nacht an die hundert Tische im Kerzenschein oder unter dezenten Laternen. Und auch wenn es gar keine Italiener sind, wichtig ist das Ambiente, der Schein. Fehlt nur noch das mediterrane Wetter. Ein paar Punks haben die Sitzbank okkupiert, ihre Hunde liegen davor, einer der Lederkerle hält zum Schnorren eine leere Büchse Richtung Passanten. Aber niemand wirft was rein, weil sich auch keiner an den Hunden vorbei traut. Dieses Geschäftsmodell ist noch verbesserungsfähig. Auch die beiden Nackten (Junge und Mädchen), die Unterschriften für eine Tierrechtsorganisation sammeln, haben wenig Erfolg. Ihre hübschen Körper ziehen schon die Blicke auf sich, aber niemand kann bei der Dunkelheit lesen, was auf ihren Zetteln steht. Und was man unterschreiben soll.

Die Oranienburger Straße dagegen ist hässlich. Jedenfalls am Anfang. Zwischen dem hippen Hackeschen Markt und der Rosenthaler Straße beginnt die Oranienburger. Im Eckhaus, im ersten Stock, gab es jahrelang eine Polizeistation. An einer Mittwochnacht im November 1938 zogen unten die SA-Männer vom S-Bahnhof kommend zur Neuen Synagoge Oranienburger Straße. Wie überall im Reich sollte sie angezündet werden, in der ganzen Stadt schon brannten die jüdischen Gotteshäuser. Die Nazihorde aber wurde verfolgt, Polizisten aus der Wache liefen ihnen hinterher und an der Synagoge angekommen warfen sie die Nazis wieder raus. Wilhelm Krützfeld hieß der mutige Polizist, der die Neue Synagoge rettete, mit dem Argument, die daneben stehenden Wohnhäuser könnten Schaden nehmen. Die schon brennende Synagoge ließ er durch die Feuerwehr löschen, zerstört wurde sie erst sechs Jahre später bei einem Luftangriff. Krützfelds Tat wurde erst 55 Jahre später bekannt, als der Schriftsteller Heinz Knobloch ihm mit dem Buch „Der beherzte Reviervorsteher“ ein Denkmal setzte.
Heute ist die Kreuzung selbst in der Nacht laut, mehrere Straßenbahnlinien, zu viele Autos und Fahrräder. Der Eingang in die Oranienburger ist schmal, der erste Blick enttäuscht – das ist alles? Nur das 60er-Jahre-Ami-Lokal an der Ecke zur Großen Hamburger Straße verbreitet etwas Atmosphäre. Sie passt gar nicht zu dem Ort, der an dieser Stelle schon wieder eine schwere Vergangenheit hat. Nur ein paar Meter weiter war während der Nazizeit eines der wichtigsten Berliner Sammellager, von hier aus wurden tausende Juden deportiert. Ein paar wurden hier nie eingesperrt, weil derselbe Krützfeld sie vor der Verhaftung warnen konnte.

Die Straße ist eng hier, die Bürgersteige sind kaputt und winzig, es passen kaum zwei Leute nebeneinander. Zwischen den Autos Barbie-Puppen. Oranienburger Straße heißt Strich. Schon immer. Während der 20er Jahre teilten sie sich die Straße, rechts die Damen, die Jungs auf der linken Seite, so war für jeden was dabei. Das war auch zu DDR-Zeiten so. Heute sind es nur noch Frauen, herausgeputzt, plastikartig und extrem langbeinig. Ihre hellen Latexbodys heben sich in der Nacht gut vom Hintergrund ab, wenn sie an der Laterne stehen, wie einst…
Ihr Hauptkampfgebiet ist vor dem Monbijoupark. Manchmal auch drin. Die potenziellen Freier erkennt man leicht, wenn sie in ihrem Auto in Schrittgeschwindigkeit über die Straße schleichen, von Radfahrern überholt und anderen Autofahrern angehupt. „Hallo Süßer, Lust auf ein bisschen Spaß?“, das hören auch die männlichen Passanten, selbst vor den Jungshorden schrecken die Damen nicht zurück. Offensiv gehen sie zu auf die pubertierende schwäbische Oberstufenklasse auf Berlinfahrt, die lautestens Jungs werden dann plötzlich klein oder leuchten mit rotem Kopf in die Nacht. Ein schöner Kontrast. Wer zu Fuß unterwegs und paarungsbereit ist, wird kurzerhand in ein Taxi befördert, Huren und Taxifahrer kennen sich hier gut: „Kurzstrecke zur Steinstraße, du weißt ja bescheid“. Und der verklemmte „Süße“, der die langen Ohren des Taxifahrers ahnt, traut sich kaum, den Mund aufzumachen.
Nur auf männliche Fotografen sind die Damen nicht gut zu sprechen, und auch nicht ihre Aufpasser, die in protzigen schwarzen Geländewagen die Hauseinfahrten versperren und auf ihre Pferdchen achten. Wer Fotos macht, sollte sich nicht erwischen lassen.

Ob den Königinnen der Nacht eigentlich bewusst ist, dass sie hier tatsächlich am richtigen Platz stehen? Der Park war einst ein Schloss, vor genau 300 Jahren errichtet. Louise Henriette von Oranien baute an dieser Stelle die ersten Kartoffeln in der Mark Brandenburg an, das richtige Schloss Monbijou kam 50 Jahre später, 1706: Königin Sophie Dorothea soll den Namen „mon bijou“ (mein Schmuckstück) ausgewählt haben, ihr folgte Königin Friederike Luise. Ein wahres Königinnenschloss also, dessen vorläufiges Ende im Bombenhagel 1943 kam. Endgültig abgerissen wurde es während des stalinistischen Bildersturms 1959. Da gab es das andere Berliner Schloss, nur ein paar hundert Meter weiter, auch schon nicht mehr.
Der Park ist heute ein Treffpunkt, tags wie nachts sitzen hier die Verliebten, die Jugendgruppen, die Trinker, Punks und Junks und ihre Dealer. Mehr am Rand die Kinder, auf den Spielplätzen und im Schwimmbad. Die Kunstgenießer freuen sich im Hexenkessel-Hofheater an der Strandbar. Spät im Dunkeln gibt’s auch mal einen Quickie, falls es ein Freier eilig hat oder zwei junge Männer von der Hitze der Nacht und des Anderen übermannt werden.
Dezenter geht es gegenüber zu, hier wird denen Lebenshilfe gegeben, die ihren Tag nicht allein organisieren können. Geistige Behinderungen haben stets zwei Seiten. Die des Behinderten und die des Betroffenen, der nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Es ist immer wieder interessant, wie hilflos diejenigen reagieren, die sonst die größten Checker sind. Dabei machen sich die eigentlichen Behinderten darum gar keinen Kopf, sie sind froh, wenn sie ohne Pöbeleien und ohne überfahren zu werden über die Straße in den Park kommen.

Es ist unmöglich, die Oranienburger Straße zu durchqueren, ohne ständig auf die Vergangenheit zu stoßen. Keine Chance. Vor allem in der Nacht wirkt das Centrum Jadaicum überwältigend. Es ist die Größe, das Gold, aber auch die eigene Geschichte, die von der Neuen Synagoge abstrahlt. Die Kommunisten haben wenigstens sie stehen lassen und sogar restauriert, dafür haben die wenigen Juden Ost-Berlins aber lange kämpfen müssen. Am 10. November 1988 fand endlich eine symbolische Grundsteinlegung für den Wiederaufbau der Ruine statt. Heute kann sie nicht mehr angezündet werden, so gut ist sie bewacht. Stahlpoller drängen Fahrzeuge weit von der Fassade ab, in Reih und Glied stehen sie da, preußisch korrekt, politische oder religiöse Fanatiker haben keine Chance, außer sie kommen zu Fuß. Manchmal stehen die Polizisten mit den umgehängten Maschinenpistolen offen vor dem Tor, andere warten lieber hinter der Tür, um Touristen und Passanten nicht zu verschrecken. Der gemeine Terrorist weiß trotzdem, dass sie da sind. Die Polizei ist hier eine Konstante, sie sitzt auch im Auto und hinten auf dem Hof.
Schon vor der Synagoge beginnen die Gasthäuser. Bis zum Ende der Straße kommt kaum ein Haus ohne Restaurant, Kneipe, Bar. Im Sommer stehen die Tische eng fast bis an die parkenden Autos, als sollten die Passanten zum Hinsetzen gezwungen werden.

Die Oranienburger bietet Essen aus der ganzen Welt. Die Asiaten haben eindeutig die Vorherrschaft, eng gefolgt von gehobener deutscher Küche, aber auch die Liebhaber anderer internationaler Spezialität finden ihren Genuss. Ein paar Meter weiter erneut ein Unikum, der Pizzastrich. Türsteher, rote Stoffe an den Wänden, die Treppe führt hinauf, Spiegel an den Wänden. Die puffige Atmosphäre ist Programm, die Pizzen heißen Britney, Chantal, Domenica – aber auch Angela. Der Durchgang zum Rodeo-Club mit seinem goldenen Kuppelsaal ist nur Eingeweihten bekannt, normale Besucher müssen über den dunklen Hof des alten Postfuhramts. Gleich nebenan in der Table-Dance-Bar Gold werden die Besucher von Damen empfangen. Aber ganz ungefährlich ist der Besuch nicht: Im vergangenen Sommer stürmten 50 Rocker die Bar, dummerweise war zufällig die Polizei vor Ort, so kam es zu massig Festnahmen.

Rocker ganz anderer Art findet man schräg gegenüber im Zapata. Die Kneipe ist Teil des Kunsthauses Tacheles, alle paar Tage finden hier Konzerte statt. Meist laut, meist rockig. Das Zapata zeugt noch von der Aufbruchsstimmung der Künstler nach der Wende in der DDR. Hier ist fast alles selbstgebaut, geschweißt, gezimmert und geschmiedet. Die Kneipe ist nichts für die üblichen Touristen, umgehängte Fotoapparate sind eine Todsünde.
Das Tacheles ist eine eigene Welt. Vor genau 100 Jahren wurde es als Kaufhaus „Friedrichstraßen-Passage“ errichtet und im Krieg schwer beschädigt. Doch noch heute ist das Bauwerk beeindruckend, selbst als halbe Ruine. Seit 1990 wird es von Künstlern und Gastronomen bevölkert. Auch nachts kann man in die Ateliers und Werkstätten schauen, die Galerien haben lange geöffnet. Sie sind heute längst das Schaufenster vom Tacheles, hier dürfen die Touristen rein, Plakate und Postkarten sind die Souvenirs, man will ja Zuhause beweisen, dass man nicht nur einen spießigen Stadtbummel gemacht hat, sondern auch „die Szene“ gesehen hat. Eine der Arterien des Hauses ist der Treppenaufgang in der Mitte, bis oben besprüht, aber er vermittelt einen Eindruck von der Größe des Gebäudes. Damit sind nicht die Ausmaße gemeint, sondern die „innere Größe“, so wie innere Werte nicht sichtbar sind, höchstens symbolisch. Doch der Weg nach oben ist erstmal versperrt. Der Englisch sprechende, magere Hippie hält einen Besen in der Hand, wie nebenbei macht er darauf aufmerksam, dass er hier putzt. Weder sieht man ihn arbeiten, noch das Ergebnis seines Werks, trotzdem verlangt er dafür einen Euro. Das Geschäftsmodell ist erfolgreich, fast alle Besucher geben etwas, sie wollen ja nicht den Eindruck erwecken, ihn auszunutzen.

In zehn Metern Höhe gelangt man auf die eiserne Brücke, die den großen Torbogen durchquert. Vor der Zerstörung des Kaufhauses ging es hier in den inneren Gebäudeflügel, heute ist dort nur noch ein riesiges Loch. Und die Brücke, die einen Blick auf das andere Leben des Tacheles freigibt. Auf das Freigelände.
Wenn man mitten drin auf dem Sandboden steht, ist es sehr laut, aus allen Ecken klingen Musik und Stimmen. 100, 200 Gäste sitzen in der Nacht draußen, noch ist es nicht zu kalt, alle acht Bars haben geöffnet. Auf einer sitzt eine riesige Spinne, über einen Meter groß, und beobachtet die Szene. Sie gehört zu den vielen Werken und Kunstwerken, so genau ist das nicht auseinanderzuhalten. Da sind die Bänke aus aufgeschnittenen Badewannen, Sitze auf riesigen Sprungfedern oder alten Rädern, der Wirt mit dem Stahlhelm, der Tisch auf der Hebebühne. Alles ist bemalt und bunt. Die vielen kleinen Lichter in der Dunkelheit der Nacht schaffen eine wundervolle Atmosphäre.
Hier hört man alle Sprachen der Welt. Ein Mann mit dreckigem Manchester-Englisch verwechselt den Ort mit Amsterdam, seine Kinder schrauben an der Bühnenelektrik herum, bis sie verjagt werden. Junggesellenabschiede, viele Junge, Schüler, Studenten, Kapuzies, Dreadlocks. Jemand spielt Akkordeon. Zwei blonde Jungs um die 20 streicheln und küssen sich auf einer Bank. Ein Mädchen kommt dazu: „Du Arsch!“ Viele lachen, das Mädchen weint, sitzt aber kurz darauf zwischen den beiden. Ein Mann versucht sein Fahrrad zu verkaufen, preist es stolz an: „Mit Bremsen und Gangschaltung!“ Und mit drei Klingeln. Vielleicht sitzt der wirkliche Eigentümer auch hier hinten? Das könnte noch amüsant werden.
Zwischen all der Konservenmusik und den Trommeln drängt sich nun die Punkmusik aus dem Zapata dazwischen. Die Kneipe ist nach hinten offen, die „Bad Berlin Boys“ spielen, wer sich das Konzert nicht live leisten kann, hört es eben hier.
Neben dem gemütlichen Gast-Hof geht es noch ein Stückchen weiter hinein in den Block. Hier sind die Outdoor-Galerien. Werke, die im Tacheles entstanden sind oder sogar hier vor Ort. Einige sind mehrere Meter groß, Metall ist hier eindeutig bevorzugtes Arbeitsmaterial. Unter dem schwarzen, fast mondlosen Himmel mutet die Galerie an wie eine riesige Halle. Nur kleine Lichter weisen den Weg.

Nach dem Tacheles gibt es wieder den Alltag der Oranienburger Straße. Direkt nebenan der Falafel-Imbiss mit den Wasserpfeifen auf den Tischen hat nicht nur leckere Schawarma im Angebot, sondern auch Frischfleisch in Form von Ratten, die lustig unter den Tischen umher rennen. Das ist nichts für zarte Gemüter.
Die Bewohner nennen die Straße nur „O-burger“. An ihrem Ende liegt die Friedrichstraße und ein kleiner dreieckiger Platz. Auch hier ist alles voll Gaststätten, Da-da-Falafel neben dem indischen Restaurant, das seinen herrlichen Curryduft über den ganzen Platz verbreitet. Eine lange Kette von leuchtenden Taxischildern drängt sich in die Straße, dazwischen Touristenautos, unsicher und damit Opfer von Hupattacken. Die Eis-Manufaktur hat schon geschlossen, nicht so die Bären-Schenke. Daneben die neuste In-Location Spot, ein „To-go-Restaurant“ vorher war da McDonalds. Oder Burger King. So genau muss man das nicht wissen, denn in ein paar Jahren wird hier wieder alles ganz anders aussehen. Die Läden haben dann andere Namen, vielleicht ist das Tacheles dann ein verglastes Aquarium, das Postfuhramt ein Einkaufs-Center, wer weiß. Sicher ist aber, dass die Oranienburger Straße in der Nacht so sein wird, wie jetzt. Und wie schon vor hundert Jahren. Ein Treffpunkt der Nachteulen, der Touristen, der Kneipengänger, der Huren und Freier. Ein bunter und ein lauter Ort.

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6 Kommentare

  1. Ja, wirklich schön zu lesen. Mich würde mal interessieren, wie dieser Text auf jemanden wirkt, der noch nie dort war. Aber eigentlich muss man die Straße nach dem lesen vor dem inneren Auge haben…

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