Rosa im November

Ein Sonn­abend im Novem­ber. Niesel­re­gen. Wie in Wolken. Es ist 2 Uhr mittags. Wohin soll ich heute in Mitte spazie­ren? Im linken Fuß habe ich Gicht. Melan­cho­lien im Herzen — Gicht im Fuß: eine Parole des Alters. Ich fahre in die Rosa-Luxem­burg-Straße. Vor kurzem hat Rudolf Schar­ping, der SPD-Spit­zen-Mann, gemeint: Nach Rosa Luxem­burg solle man in der Haupt­stadt ebenso wenig eine Straße benen­nen wie nach Clara Zetkin. Viel­leicht haben wir ihn miss­ver­stan­den. Rosa Luxem­burg war die längste Zeit ihres Lebens eine SPD-Spit­zen­po­li­ti­ke­rin, an ihrer Ermor­dung waren viel­leicht SPD-Spit­zen­po­li­ti­ker betei­ligt, die SPD-Spit­zen­po­li­ti­ker der Enkel­ge­nera­tion, die im Verhält­nis zu Rosa aber längst Uren­kel wären, verges­sen sie jetzt. Kaiser-Wilhelm-Straße werden sie Rosas Straße nicht wieder nennen wollen.
Kaiser-Wilhelm-Straße hieß der Stra­ßen­zug, der das Berlin des Schlos­ses verbin­den sollte mit Alt-Berlin und mit den großen Stra­ßen, die die Menschen aus den Vorstäd­ten heran­füh­ren. 80 Jahre hieß der Stra­ßen­zug nach dem Kaiser, der als junger Mann einen bruta­len Bürger­krieg geführt hat. Die erste Deut­sche Repu­blik hat das nicht gestört. 30 Jahre heißen die Stra­ßen jetzt nach den Pazi­fis­ten. Die Rosa-Luxem­burg-Straße liegt mit der Weydin­ger­straße neben dem oberen Stück der Karl-Lieb­knecht-Straße wie ein eksta­tisch aufge­reck­tes Doppel­kreuz, als wolle Rosa den Platz umar­men, der nach ihr, zuvor nach Horst Wessel und davor nach Bülow hieß. Dieser Bülow hat als Reichs­kanz­ler die poli­ti­schen Wegmar­ken zum Jahr­hun­dert­be­ginn auf Krieg gestellt; 1909 musste der Kaiser ihn entlas­sen: zum Trost bekam er kurz darauf den Platz, den er im Mai 1933 an Horst Wessel abge­ben musste. Was sollen wir über Horst Wessel sagen, den Pasto­ren­sohn aus dem Niko­lai­vier­tel, dessen schril­les Nazi-Lied die Deut­schen durch Europa brüll­ten? Er ist nur 23 Jahre alt gewor­den. Da passt es schon, dass Rosa ihre Straße die Arme aufre­cken lässt, als ob sie schreie: Aber das sind Einbil­dun­gen. In der Wirk­lich­keit sieht man davon nichts. Die Rosa-Luxem­burg-Straße hat nicht viel von Rosa Luxem­burg. Sie heißt bloß so. Sie beginn als eine Abzwei­gung von der Karl-Lieb­knecht-Straße. Links ein Hoch­haus, an dessen glat­ten Wänden sich irgend jemand empfiehlt als “Ihr Part­ner für die Erfas­sung und Abrech­nung von Wärme und Licht”. Das Licht erfas­sen — was für eine Aufgabe. Auf der rech­ten Seite am Stra­ßen­ein­gang die flach­ge­schos­sige “Markt­schenke”, Neuzel­ler Klos­ter­bräu, hinten blin­ken Auto­ma­ten.

Das ist unge­fähr die Stelle, wo die große zentrale Markt­halle, der Bauch von Berlin, riesen­haft stand und wo begann, was heute in den Kauf­häu­sern glit­zernd endet. Dieses erste Stück der Rosa-Luxem­burg-Straße bis zur Memhard­straße ist viel ruhi­ger als der zweite Teil der Straße, der die Autos herun­ter führt aus Pankow, Wedding, Prenz­lauer Berg. Wenn der Spazier­gän­ger den klei­nen fast elegan­ten Bogen abge­schrit­ten hat, mit dem die Rosa-Luxem­burg-Straße unter der S‑Bahn hindurch führt, sieht er schon die Volks­bühne vor sich. Sie begrenzt die Straße für den lang­sam aufwärts gehen­den Spazier­gän­ger und schließt sie ab. Wenn ich nord­wärts blicke, fühle ich mich in einer Schub­lade der Geschichte, die tief drin steckt im deut­schen Hin-und-Her, und wenn ich mich umdrehe, schaue ich in die Gegen­wart zurück, die Spitze des Fern­seh­turms verliert sich im Nebel, unten eine beweg­li­che Leucht­re­klame: Eine leicht beklei­dete Frau in rotem Busen­schmuck wirft aus der blauen Pfanne gelbe Eier­ku­chen in die Höhe und fängt sie wieder auf. Im schö­nen BVG-Haus an der Ecke zur Dirck­sen­straße sind an diesem Sonn­abend drei Fens­ter beleuch­tet. Die Ecke gegen­über wartet noch auf Bebau­ung, behilft sich so lange mit Altau­tos und einer dicken Reklame für einen dicken Berli­ner Makler, der sich für alles anbie­tet. Der Buch­hand­lung dane­ben geht es hoffent­lich gut. Die bunte Bücher­welt ihres Schau­fens­ters wirkt stär­kend im Novem­ber­grau. Indem ich aufwärts gehe, weiß ich, über welche Geschichte und Geschich­ten ich hinschlei­che. Was man sieht, ist der klei­nere Teil der Wirk­lich­keit. Bald kommt die Hirten­straße. Wenn man davon absieht, dass sie sich ursprüng­lich nur eine Gasse nannte, führt sie einen der ältes­ten Stra­ßen­na­men. Fast 300 Jahre erin­nert sie daran, dass der Magis­trat von Berlin eines Kuhher­den unter­hielt und einen Magis­trat­shir­ten der dort hinten im Kuhhaus wohnte. Ach, es wohn­ten noch ganz andere Leute hier.

Die Weydin­ger­straße, in die ich kurz nach dem Baby­lon einbiege (das viel mehr ist als nur ein Kino wie andere), nun auf das Karl-Lieb­knecht-Haus zuge­hend, hieß mehr als andert­halb Jahr­zehnte lang nicht nach diesem Tuch- und Woll­fa­bri­kan­ten, der sie nun auch schon länger als ein Jahr­hun­dert benennt, sondern: “Vierte Scheu­nen­gasse”. Das sagt uns der Name schon, wo wir hier sind. Das jüdi­sche Getto begann weiter hinten. Schon in der Kaiser­zeit hatte man Pläne, das verruchte “Nutten‑, Rotlicht- und Schwarz­han­dels-Vier­tel” zu sanie­ren. Nach dem ersten Welt­krieg kamen die Vertrie­be­nen aus Gali­zien, meist Juden. Hier an der Stadt­bra­che des Bülow­plat­zes ließen sie sich nieder, das war der Platz, an dem der Anti­se­mi­tis­mus in Berlin am wenigs­tens schlimm schien, hier waren andere Juden, hier fanden sie Freunde, Verwandte, Ihres­glei­chen. Mitten unter ihnen stieg die Volks­bühne auf. Oscar Kauf­mann entwarf das humane Gebäude, das präch­tig war und nicht protzte. Bruno Wille hieß der Orga­ni­sa­tor des Volks­büh­nen-Vereins. Am Bülow­platz sollte ein Zentrum der Arbei­ter­kul­tur aus dem Elend der Stadt­bra­che hervor wach­sen. Die Bühne entstand, an der Ecke gegen­über entstan­den die Wohn­bau­ten von Hans Poel­zig. In den 20er Jahren war es hier ein Mittel­punkt der deut­schen, ja der euro­päi­schen Thea­ter­kul­tur. Die KPD errich­tete nebenan unter natio­na­ler, ja inter­na­tio­na­ler Aufmerk­sam­keit ihr Partei-Haupt­quar­tier.

Aber 1923 gab es hier auch einen deut­schen Plün­der- und Raub­zug gegen die Juden, einen Pogrom, mit dem die Berli­ner zeig­ten, was sie woll­ten und was die Nazis ihnen dann gaben, “Das Chaos ist aufge­braucht, es war eine schöne Zeit” ist in der Klei­nen Alex­an­der­straße, dem Hinter­aus­gang des Baby­lon gegen­überm ange­sprayt. Ich weiß nicht, welche Vergan­gen­heit damit bewäl­tigt wird. Es ist 4 Uhr nach­mit­tags. Es dunkelt schon. Die Inschrift “Volks­bühne” ist unter­des­sen von hinten erleuch­tet, aber nur schwach. Auf dem weißen, links über die ganze Fassade fallen­den Trans­pa­rent, bildet die Volks­büh­nen-Direk­tion das laufende Rad, rechts ebenso groß ein Ausru­fe­zei­chen. Ich kann das Ausru­fe­zei­chen nicht leich­ter deuten als das auf Menschen­fü­ßen und ‑beinen laufende oder schrei­tende oder schwer und steif gehende alte Rad.
Das große “OST” auf dem Bühnen­haus ist von der Gerüst­be­de­ckung durch­ge­stri­chen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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1 Kommentar

  1. Schar­ping, wer war das noch mal? Luxem­burg und Zetkin Stra­ßen wird es noch geben in weiter Zukunft, wenn Schar­ping längst verges­sen ist, wie auch, daß die SPD vor langer Zeit mal eine Arbei­ter­par­tei war!

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