Vorwärts von Brecht zu Fontane

Manch­mal stelle ich mir vor: Die Entschla­fe­nen, deren Gebeine auf dem Doro­theen­städ­ti­schen Fried­hof an der Chaus­see­straße einge­gra­ben sind, bele­ben eines Nachts ihre müden Knochen, stehen alle auf und erken­nen sich.
Da wird es manches Erstau­nen geben. Mancher wird sich in unkla­rer Gesell­schaft finden. Hegel wird — leicht belei­digt — schwei­gen, Schin­kel wird zu zeich­nen begin­nen, John Heart­field sucht nach einem Foto­ap­pa­rat. Und Brecht? Was wird Brecht tun? Viel­leicht wird es ihm ein biss­chen pein­lich sein, dass er direkt neben seiner Frau steht und Helene Weigel wird viel­leicht auch nichts mehr mit ihm anfan­gen. Endlich wird es Morgen. Die berühm­ten Toten ziehen die Chaus­see­straße aufwärts wie eine Touris­ten­gruppe, weil Anna Seghers gesagt hat, man solle Fontane besu­chen.
Diesen Weg mache ich jetzt auch. Es ist der Weg der Brüder Humboldt. Denn Chaus­see- und später Müllerstraße verdan­ken ihre Exis­tenz dem Wunsch der welt­be­rühm­ten Brüder nach einer möglichst schnel­len Verbin­dung zwischen Berlin-Mitte und Tegel, wo sie ihre anti­ken Gipse aufbe­wahr­ten und wo Schin­kel ihnen den Himmel an die Decke gemalt hatte.

Ich verab­schiede die Toten vom Doro­theen­städ­ti­schen. Es ist nicht gut, allzu lebhafte Vorstel­lun­gen über die Verstor­be­nen zu entwi­ckeln. Von ihnen brau­chen wir eine Zeit­lang Gedan­ken und Werke, dann müssen wir sie in die Lexika versin­ken lassen und leben­dige Menschen suchen, die auf unsere Fragen Antwor­ten wissen. Was für Antwor­ten sollte uns z.B. August Borsig zu sagen haben? Er war gerade 50, als man ihn hier eingrub unter einem feinen Denk­mal von Schin­kel. Die Chaus­see­straße — die Straße des Maschi­nen­baus, eine hoch­ka­pi­ta­lis­ti­sche Straße. Chaus­see­straße 6 (jetzt 13) das Borsig­sche Geschäfts­haus, Reimer und Körte hießen die Archi­tek­ten, Chaus­see­straße 1: Borsigs erste Maschi­nen­fa­brik, 1837 bis 1888 lief hier die erste Loko­mo­tive vom Stapel, in Borsigs Todes­jahr die 500. Als die 1000. Lok im Blumen­schmuck das Werk verließ, war es ein Volks­fest; die ganze Stadt — wie man so sagt — nahm an dem Ereig­nis teil. “Hier wurde die Bedeu­tung Berlins für den Welt­markt gelegt”, sagt J. Kastan in “Berlin wie es war”.

Neben Borsig hatten hier auch Schwartz­kopff, Pflug und Wöhlert ihre Maschi­nen­fa­bri­ken. Ihre Stra­ßen biegen weiter oben von der Chaus­see­straße ab und führen zu ihr zurück. 1867 verlie­ßen die ersten 12 Güter­zug­loks das Werk von “Schwarz­kopf und Nitsche”, Pflug baute seit 1831 hier Eisen­bahn­wag­gons, und Wöhlerts Maschi­nen­bau­an­stalt und Eisen­gie­ße­rei bestand seit 1843. Eine Straße der Unter­neh­mer, also auch eine Straße der Arbei­ter. Karl Lieb­knecht hatte hier mit seinem Bruder Theo­dor eine Anwalts­kanz­lei. Gerade neben der Akade­mi­schen Buch­hand­lung von Paul Schro­ber (1897 gegrün­det) und dem ehema­li­gen Hotel Bava­ria, das nur noch als blasse Inschrift vorhan­den ist, im Rücken Brechts und neben dem lang­sam verfal­len­den Super­markt: der Gedenk­stein, auf dem Lieb­knecht den Spar­ta­kus feiert als Feuer und Geist, Seele und Herz, Wille und Tat: Ach, die Polit-Lyrik verblasst auch, die Zeit hat die Decke des Verges­sens darüber gelegt.

Ein Brach­feld, wo das Stadion der Welt­ju­gend war und noch früher Kaser­nen; auf der rech­ten Seite arbei­te­ten die Arbei­ter für die Unter­neh­mer, auf der linken rück­ten sie ein für den König, den Kaiser, den Staat, das Vater­land: Vor der Kaserne, vor dem großen Tor — das war hier. Hier hat Hans Leip den Text geschrie­ben, auf den einen Welt­krieg später der Nazi-Mitläu­fer Norbert Schulze das Lied der Sehn­sucht für die schrieb, die ihre Leben dran­ge­ben soll­ten und wuss­ten nicht warum und wofür und sagten trotz­dem nicht nein. Wie einst Lilli Marlen.

Menne & Marquardt steht an dem Gewer­be­kom­plex, den wir rech­ter Hand nun durch­fah­ren. “MS Station” und “NS-Station” heißt es am Eingang mit Pfei­len nach oben und unten. Aber niemand ist da. Ausge­stor­ben.
Nach vier Höfen führt ein Ausgang auf die Schwartz­kopff­straße. Schwartz­kopff­straße 10 ist strah­lend gelb restau­riert. “Tür der Frei­heit” steht an der Tür der Mauer, die die Schwartz­kopff­straße verschließt; früher führte sie bis zur Stet­ti­ner Bahn. Die Tür der Frei­heit ist zu. “Früher Secura, Regis­trier­kas­sen”, sagt eine alte Frau, die Turadj, der mich fährt, in der Pflug­straße fragt. “Zu Fontane, da hinten”, sagt sie und lächelt. Heinz Knob­loch hat den DDR-Weg zu Fontane in seinem Buch “Berli­ner Grab­steine” unver­gleich­lich beschrie­ben.
Der Weg ist auch jetzt noch gang­bar, er führt durch einen großen, trotz­dem fast inti­men Hof. Nun soll aber wieder der offi­zi­elle Eingang gelten, am Plas­tik­schild heißt es: Zugang über Liesen­straße, Liesen­straße 7: eine Draht­tür. Über den ehema­li­gen Todes­strei­fen gehen wir zu den Toten.

Mehrere Wegwei­ser: Zur Ruhe­stätte Theo­dor Fonta­nes. Sie ist leicht zu finden. Die Daten von Emilie Fontane auf dem schwar­zen Granit verblas­sen. Das Grab wirkt trotz­dem nicht hundert­jäh­rig. Zwei Lebens­bäume, Fried­hofs­zy­pres­sen, Heide­sträu­cher, Tannen­zweige, dass Fonta­nes es warm haben. Am 18. Septem­ber 1898 hatte er an Emilie, die verreist war, geschrie­ben: “Ich erschre­cke vor allem, und selbst wo soge­nannte Vergnüg­lich­kei­ten in Sicht stehen, ist mein Trost: Um 9 Uhr ist alles aus.” Am Morgen des 20., der letzte Brief des großen Brie­fe­schrei­bers: “Das sind nun die letz­ten Zeilen”, denn zwei Tage später sollte die Empfän­ge­rin aus den Ferien zurück sein. Gegen neun Uhr am Abend, nach dem Abend­essen, war alles vorbei, Herz­schlag. Am 24. Septem­ber wurde er hier einge­gra­ben. Es war ein bunter Herbst­tag. Spät­ro­sen, rot und weiß, weiße Malven: “Du hast die Ruhe nun, Erde wird zu Erden”.
Als wir ein Stück vom Grab fort sind, um das Häus­chen der Fried­hofs­ver­wal­tung zu besich­ti­gen, das an Grab­stei­nen lehnt, kommt uns ein Leder­mann entge­gen, Leder bis in die umkor­delte Mütze. “Wo is nun der Fontane?”, fragt er uns. “Ick hab det erst auf det weiße Schild wahr­ge­nom­men.”
Wer weisen zurück: dort hinten.
“Ick mach nämlich och so wat Ähnli­ches wie der Fonatne”, sagt er erklä­rend.
Das kann ich von mir wohl nicht sagen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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