Letzte jüdische Schule Deutschlands

Als einen sicheren Hafen beschrieben Jugendliche ihre Schule in der Moabiter Siemensstraße 15. Während außerhalb die Nazihorden regierten und jüdische Geschäfte zerstörten, blieb dieses kleine Internat unangetastet. Tatsächlich duldete der NS-Staat die Mischung von Schule und Berufsausbildung noch bis 1943, als Juden eigentlich schon seit Jahren der Besuch von Bildungseinrichtungen verboten war.

Dies war nur wegen einer Besonderheit des Internats möglich. Es gehörte dem Verein ORT, der 1880 in Russland gegründet worden war, um jüdischen Jugendlichen eine Berufsausbildung zu ermöglichen. Der Name war eine Abkürzung, übersetzt hieß es „Gesellschaft für Handel und landwirtschaftliche Arbeit“. Es gibt ihn bis heute, mittlerweile heißt er World ORT und steht für „Organisation, Wiederaufbau, Schulung“. In über 50 Ländern der Erde ist er vertreten, jedoch nicht mehr in Deutschland.

Nach der Oktoberrevolution verlegte ORT 1921 seinen Sitz nach Berlin in die Bleibtreustraße 34. Da es in Deutschland bereits eine funktionierende Schulausbildung und auch jüdische Schulen gab, wurden hier keine eigenen Einrichtungen gegründet. Dies änderte sich, als jüdische Kinder ab November 1937 keine öffentlichen Schulen mehr besuchen durften.
Und auch jüdischen Schulen wurde Steine in den Weg gelegt, bevor sie 1942 ganz verboten wurden. So durften sie bald kein eigenes Vermögen mehr haben, was einen Schulbetrieb fast unmöglich machte. ORT als internationale Organisation hatte auch eine Sektion in England. Und diese war es, die 1937 offiziell das Gebäude in der Siemensstraße 15 kaufte sowie die Lehrmittel und das Werkzeug für die Berufsschüler bezahlte. Das Eigentum ausländischer Juden wurde ja vorerst noch nicht angetastet. Adolf Eichmann persönlich gab die Erlaubnis zur Schulgründung, unter der Voraussetzung, dass die Absolventen am Ende Deutschland verlassen würden. So stand das Internat eine Zeitlang unter gewisser Immunität. Während der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde es z.B. nicht beschädigt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Schule mehr als 200 Schüler ab 14 Jahren. Als im Laufe des Jahres 1939 ein Krieg immer wahrscheinlicher wurde, beschloss der britische Verband von ORT, die gesamte Schule nach England zu evakuieren. Für 215 Schüler und Lehrer wurden Visa beantragt, doch die britische Regierung wollte keine größeren Gruppen ins Land lassen. Die ORT-Mitarbeiter überzeugte sie schließlich mit dem Argument, dass die Ausrüstung und auch die gut ausgebildeten Schüler sonst den Nazis in die Hände fallen würden und denen nützen würden.
Im August 1939 reiste der britische Leutnant Joseph Levey nach Berlin und wurde in seiner Regimentsuniform samt schottischem Kilt bekleidet in der SS-Zentrale vorstellig. Sein Auftreten machte so viel Eindruck, dass er eine Zusage für die Ausreise der Jugendlichen nach England bekam.

Die erste Gruppe von 106 Schülern und einige Lehrer konnten kurz danach abreisen, vom Bahnhof Charlottenburg aus ging es nach Holland und weiter nach England. Allerdings galt die Genehmigung nicht für die Angehörigen. Die anderen Schüler und Lehrer sowie der Rektor Werner Simon sollten eine Woche später folgen. Doch als am 1. September 1939 der Krieg ausbracht, wurden die Grenzen sofort geschlossen. Nun saßen sie in Berlin fest und kehrten zur Schule zurück.

Überraschenderweise wurde das ORT-Internat von den deutschen Behörden weiterhin in Ruhe gelassen, obwohl es nun zu einem feindlichen Staat gehörte. Über die folgenden vier Jahre ist wenig bekannt. Eichmann schrieb 1941 einen Brief, dass es nun in die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ integriert wurde, einem Verband, in dem die Nazis alle noch existierenden jüdischen Organisationen zusammenfassten. Bis dahin wurden sogar neue Schüler aufgenommen, teilweise auch bereits erwachsene.
Im April 1941 aber wurde ihr der Status als Schule aberkannt. Trotzdem durften die Jugendlichen weiterhin im Internat bleiben, mussten tagsüber aber in Fabriken der Stadt arbeiten. Bis 1943, als Berlin offiziell als „judenfrei“ erklärt wurde, gab es trotz des Verbots weiterhin Unterricht.

Währenddessen erging es auch den Emigrierten schlecht. Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung wurden sie größtenteils als „feindliche Ausländer“ in Internierungslager gesteckt, wo sie bis Kriegsende festgehalten wurden. Wer noch unter 16 Jahre alt war, ist dagegen in die britische Armee eingezogen worden.

Aber das ist kein Vergleich zu dem Schicksal, das die in Berlin zurückgebliebenen Schüler erwartete. Immer wieder wurden einzelne von ihnen festgenommen und in Konzentrationslager deportiert. Darunter auch der Lehrer Dr. Arthur Feige, dem jedoch auf dem Weg nach Auschwitz die Flucht gelang. Im Februar oder Juni 1943 (unterschiedliche Angaben) stürmte dann die SS das Internat. Sie nahmen die verbliebenden Lehrer und die etwa 100 Schüler mit, die kurz darauf nach Auschwitz deportiert wurden. Nur der zuvor geflohene Lehrer Arthur Feige sowie einer der Schüler überlebte den Holocaust.

Nach der NS-Zeit gründete sich World ORT auch noch einmal in Deutschland. Sie bildete Juden aus, die zurückgekehrt waren oder den Faschismus hier überlebt hatten. Diese Ausbildung diente aber nur noch dazu, ihnen Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln, die sie dann nach ihrer endgültigen Auswanderung gebrauchen konnten. Im Jahr 1952 beendete ORT in Deutschland seine Arbeit, es gab nicht mehr genügend Auswanderungswillige, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Sie war für viele Jahre die letzte jüdische Schule in Berlin. Und auch das einstige Gebäude existiert heute nicht mehr.

print

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*