Wir.

Wenn man derzeit an eini­gen Flücht­lings­hei­men vorbei kommt, glaubt man, sich vor einem Gefäng­nis zu befin­den. Der Wach­schutz riegelt manche der Lager offen­bar komplett ab. Die Kanz­le­rin sprach zwar davon, dass wir nicht in Grup­pen zusam­men sein sollen – aber für die Flücht­linge gilt das anschei­nend nicht. Und zwar schon mit dem ersten Wort: Wir.

Warum habe ich nur das Gefühl, dass mit diesem „wir“ nur die Biodeut­schen gemeint sind? In Zeiten von Krieg und Krise ist das oft so: Die Ursprungs­be­völ­ke­rung kapselt sich ab, „die Ande­ren“ werden ausge­grenzt. Oft sogar einge­sperrt, nur weil sie oder ihre Eltern nicht hier gebo­ren wurden.

Ein Nach­bar, Student aus Singa­pur, erzählt von zuneh­men­dem Rassis­mus in den vergan­ge­nen Wochen. Bereits zwei­mal wurde er als „Chinese“ ange­fein­det und dafür verant­wort­lich gemacht, für das Corona-Virus mitver­ant­wort­lich zu sein. Täglich muss er böse Blicke aushal­ten. Mehr­mals gab es bereits Angriffe gegen Asiat*innen aus unter­schied­li­chen Ländern.

In Krisen­si­tua­tio­nen zeigt sich der wahre Charak­ter des Menschen. Derzeit in unso­zia­lem Verhal­ten, aber auch in Anpö­be­leien und Angrif­fen gegen Immi­gran­ten oder auslän­di­schen Studen­ten. Auch das Einsper­ren von Flücht­lin­gen in ihre Lager, ist nichts ande­res als Rassis­mus. Schon im Normal­fall, aber jetzt erst recht.
„Die da sind schon krank“, zischte mir eine Passan­tin in Marzahn gehäs­sig zu und zeigte auf die Unter­kunft. „Sie offen­bar auch“, antwor­tete ich, aber sie hat nicht verstan­den, was ich damit meinte.

Offen­bar passt es dem Senat ganz gut, dass hier die Ausgangs­sperre gleich mit dem Wach­schutz durch­ge­setzt werden kann. Ob sich die Menschen im Inne­ren der Lager gegen­sei­tig anste­cken, ist bei denen anschei­nend egal. Dabei ginge es auch anders: Ein Groß­teil der 800 Berli­ner Hotels steht derzeit leer. Die Betrei­ber würden sich freuen, wenn wenigs­tens in einem Teil der Zimmer Flücht­linge unter­kom­men könn­ten. Sie wären dann besser geschützt und die Hotels hätten keinen Total­aus­fall.

Wie wenig man diese Menschen wert­schätzt, sieht man zurzeit auch in Grie­chen­land. Auf Lesbos ist nun das große Lager mit rund 20.000 Flücht­lin­gen abge­rie­gelt worden. Wenn die Pande­mie dort ausbricht, ist das über­haupt nicht mehr zu stop­pen. Und so geschwächt wie viele dort sind, bei abso­lut unzu­rei­chen­der medi­zi­ni­scher Unter­stüt­zung, ist eine mensch­li­che Kata­stro­phe sehr wahr­schein­lich.

Aber jetzt schauen eben nicht nur die Menschen hier in Deutsch­land, sondern auch ganze Staa­ten nur noch auf sich: Wir. Da muss das Über­le­ben der Flücht­linge eben hinten­an­ste­hen, obwohl sie schon Krieg und Dikta­tur erlit­ten haben.

Die Kanz­le­rin ruft ihr Volk zur Soli­da­ri­tät auf. Aber in Deutsch­land leben derzeit auch viele Menschen, die diese Soli­da­ri­tät mindes­tens genauso nötig haben, wie die allein­er­zie­hende Mutter in Reini­cken­dorf oder der alte Opa in Trep­tow. Das WIR darf nicht nur für Deut­sche gelten, Hilfe wird auch von Menschen gebraucht, die ursprüng­lich aus ande­ren Ländern kamen.

Ja, in solchen Zeiten zeigt sich der wahre Charak­ter. Eines Menschen, aber auch einer Gesell­schaft.

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