Brief an einen verschwörungs­gläubigen Freund

Eine der bedrückenden Erfahrungen, die man in diesen Pandemie-Zeiten macht, ist die, dass der Umgang mit dem Virus vielfältige Spannungen erzeugt, die nicht nur die Gesellschaft in feindliche Lager spalten, sondern auch Freundschaften auseinanderzureißen drohen. Dass man einander nicht einmal mehr mit Argumenten zu verständigen vermag, legt sich über alles, was mit dem Virus in Berührung kommt.

Das Heimtückische dieser Pandemie ist, dass das Virus ebenso wie wir Menschen auf Sozialkontakte angewiesen ist. Und eine der hervorstechendsten negativen Auswirkungen dieser Pandemie besteht darin, dass das Gift mehr und mehr auch in die zwischenmenschlichen Beziehungen einträufelt. Gestern noch Freunde, heute einander spinnefeind! Gesprächsabbruch ist noch eine der milderen Reaktionen. Diese oder ähnliche Erfahrungen dürften im letzten Dreivierteljahr viele Menschen gemacht haben.

So auch der Autor dieser Zeilen. Er fühlte sich durch die verschwörungstheoretischen Phrasen eines langjährigen Freundes herausgefordert, ein rationales, argumentatives Bollwerk aufzubauen. Da ein vorläufig letztes Telefongespräch in ein emotionales Desaster mündete, schrieb er ihm einen Brief. Den Anlass bot ihm dessen Weiterleitung einer E-Mail-Petition, die dazu aufforderte, die Verabschiedung des „Dritten Schutzgesetzes“ (von den Corona-Leugnern wie von der extremen politischen Rechten gleichermaßen als „Ermächtigungsgesetz“ diffamiert) am 18. November 2020 durch den Bundestag zu stoppen.

„Hallo R., ich wollte Dich bitten, mir Mails mit solchen Petitionsaufrufen nicht mehr zuzusenden. Ich habe zu dem ganzen Geschehen eine gänzlich andere Meinung. Für mich ist die Pandemie eine Tatsache, Covid-19 ein äußerst heimtückisches und gefährliches Virus. Und ich kenne im Übrigen auch das Infektionsschutzgesetz, das der Gefahrenabwehr von Seuchen, Epidemien und Pandemien dient Es existiert seinem Namen nach seit Anfang 2001 -als Nachfolger früherer staatlicher Schutzgesetze. Auch dass es im Falle der Anwendung dieses Gesetzes zu Grundrechtseinschränkungen kommt (diese werden explizit im Infektionsschutzgesetz angeführt!), ist mir geläufig.

Nur ist es eine Frage der grundsätzlichen Abwägung, ob man z.B. die Tuberkulose oder die Corona-Pandemie wildwüchsig grassieren lassen möchte, oder diesen lebensgefährlichen Erkrankungen Einhalt gebieten will. Und dies geht nicht, ohne für die Dauer der Gefahr räumlich und zeitlich begrenzte Eingriffe ins öffentliche wie private Leben zu gestatten und vorzunehmen. Daher ist die Behauptung haltlos, dass die Bundesregierung vermittels dieses Gesetzes das Grundgesetz dauerhaft einschränken wolle. Kurzum: Weder ist das Infektionsschutzgesetz „neu“, wie mancher Corona-Leugner zu glauben scheint, noch werden durch die Verabschiedung seiner in diesem Jahr dritten Überarbeitung mit einem Mal Grundrechtseinschränkungen eingearbeitet.

Die angeblich ums Grundgesetz Besorgten vergessen bei all ihrem Eifer, dass in den Artikeln 2, 8, 11 oder 13 eben dieses Grundgesetz Ausnahmen im Falle einer Seuchengefahr vorsieht. Dort sind die Für- und Vorsorgepflichten des Staates gegenüber seinen Bürgern ebenso formuliert wie die damit verbundenen, temporär die Freiheit einschränkenden Schutzmaßnahmen. Da Du vorgibst, das Grundgesetz zu kennen, lies doch bitte selbst die Details nach. Bekanntlich gibt es Leute, die die Existenz der Pandemie rigoros leugnen. Andere – und zu denen zählst Du – sind der Überzeugung, dass Corona nichts anderes als eine gewöhnliche Grippe sei. Das alles wird behauptet, ohne

dass man auf überzeugende fachwissenschaftliche Begründungen trifft! Dass Du mir als Beweis für Deine These allen Ernstes einreden willst, dass die KrankenpflegerInnen mangels Beschäftigung Kurzarbeit schöben: Dies hat mich doch sehr in Rage gebracht! Zu den Grafiken, mit denen Du mich per E-Mail gleichsam zugeschüttet hast, möchte ich sagen: Aus dem Zusammenhang gelöste. Grafiken aufzulisten, um die Existenz des Virus in Zweifel zu ziehen, ist sehr unredlich. Es widerspricht allen wissenschaftlichen Maßstäben, von der Erhebung lokal und zeitlich extrem begrenzter Datenerfassungen auf die allgemeine Situation des Infektionsgeschehens zu schließen. Wer das nicht bedenkt, fällt auf vorsätzliche Verfälschungen hinein.

Damit habe ich nichts gegen die Datenauflistung als solche in den Grafiken gesagt, die ja soweit stimmen mögen, sondern gegen ihre Verwendung in unstatthafter Generalisierung. Solche Behauptungen aufzustellen, ist gefährlich. Und zwar schon deswegen, weil man durch solche Verleugnung oder Verharmlosung Todesfälle über Todesfälle generiert. Ein Beispiel: Die USA des notorischen Wahrheitsleugners Trump. Wenn es zudem soweit kommt, dass auf Anti-Corona-Demonstrationen Menschen aggressiv angegangen werden, die eine Schutzmaske tragen, dann werden für mich die im Grundgesetz verbrieften Rechte auf „körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2, Abs. 2) ebenso verletzt wie das „Recht auf freie Meinungsäußerung“ (Art. 5).

Mag sein, dass etliche jener Eiferer diese Verstöße aus politischer Naivität begehen. Nur haben sich mittlerweile extrem rechte Gruppierungen in die Reihen der Corona-Leugner-Demonstranten eingeklinkt. Und diese setzen besagte Grundrechtsverletzungen in voller Absicht, ganz unnaiv und sehr gezielt als Mittel für ihre politischen Zwecke ein. Merkst Du gar nicht die Paradoxie einer sochen Vorgehensweise? So protestiert etwa der Rechtsextreme Björn Höcke im öffentlich- rechtlichen Fernsehen mit gespielter Emphase gegen die „Meinungsdiktatur“ der „Mainstream“-Medien. Dass er das paradoxerweise gänzlich unbehelligt sagen darf, kümmert ihn in seinem Urteil herzlich wenig. So auch seine Adepten nicht, die, von niemandem daran gehindert, in der Öffentlichkeit nach „Freiheit“ von angeblichen Repressionen schreien dürfen.

Das Perverse des inflationären Gebrauchs von Begriffen wie „Merkel-Diktatur“, „Lügenpresse“, „Freiheitsberaubung“ oder „Ermächtigungsgesetz“ besteht gerade darin, dass sie zielstrebig das Geschäft des Demokratieabbaus betreiben. Denn diese Begriffe, hier und heute im Brustton der Empörung vorgetragen, dienen nur zu einem: der Abwertung demokratischer Strukturen durch permanente Verharmlosung realer Diktaturen oder diktatorischer Verhältnisse. Die Rechten, vorab der das „System“ – auch so ein Nazi-Kampfbegriff – bekämpfende Flügel der AfD im Verein mit den Neonazis, verstehen sich in besonderer Weise auf diese Taktik. Toleranz ist für sie eine Einbahnstraße.

Ich möchte Dich darauf aufmerksam machen, dass das Gesetz in einem demokratischen Procedere verabschiedet wird. Nicht eine „Regierung“ oder gar eine „Einheitspartei“, sondern die Vielparteien-Institutionen Bundestags und Bundesrat stehen hinter ihm. Ratifiziert wird es durch den Bundespräsidenten. Und die Gewaltenteilung sieht zudem die Möglichkeit eines Vetos durch das Bundesverfassungsgericht vor. Soweit die vorgesehene Verfahrensweise. In der Praxis sah das allerdings ein wenig anders aus.

Ich muss zugeben, dass ich die Art und Weise, wie dieses Gesetz gleichsam durchgepeitscht wurde, auch nicht gut finde. Und die vielfältige Kritik daran, dass das Parlament erst im Nachhinein in das Verfahren eingebunden wurde, ist durchaus berechtigt. Auch kann ich nachvollziehen, dass ein Verfahren, welches substanzielle Eingriffe in grundgesetzlich verbürgte Freiheitsrechte beschließt, Misstrauen erweckt, wenn es nicht von Beginn an das Parlament mit einbezieht.

Aber taugt all das, um deswegen von einem „Ermächtigungsgesetz“, gar einer „Merkel“- oder „Spahn“-Diktatur zu reden? Werden durch gesetzlich vorgeschriebenes Tragen von Schutzmasken in der Öffentlichkeit wirklich grundgesetzlich verbriefte Freiheitsrechte eingeschränkt? Ich denke, dass dies keineswegs der Fall ist. Wer die Differenz zwischen dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland und dem der Nazi-Diktatur leugnet – mit dem kann man eigentlich nicht mehr ernsthaft diskutieren. Es fehlt schlichtweg die gemeinsame Verständigungsbasis.

Du wirst sicher alles, was ich hier schreibe, als meine auf argloser Naivität beruhende Sichtweise abtun. Ich, so Deine starke Behauptung, würde schlichtweg nicht meinen Verstand gebrauchen, sondern den Lügen und Fälschungen (den „Fake News“) der „Mainstream-Medien“ und „Lügenpolitiker“ aufsitzen. Gewiss, wir – auch die Politiker – sind nahezu alle medizinische Laien und auf die Aussagen der Epidemiologen angewiesen. Aber die zum Teil sich heftig widersprechenden Einschätzungen der Virologen-Zunft und die zwischen den Bundesländern so unterschiedlichen Schutzmaßnahmen trugen freilich eher zur Verwirrung über das komplexe Pandemiegeschehen bei als zu dessen Verständnis.

Nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich dadurch für jene, die nach einfachen Erklärungen suchen, eine Glaubwürdigkeitslücke zwischen medizinischer Prognostik und politischem Handeln aufgetan hat. Es mag daher nicht verwundern, dass andere Informationsquellen als die diversen offiziellen genutzt werden. Aber auf welche Quellen stützt Du all Deine Behauptungen? Sie sind den „Sozialen“ Medien des Internets entlehnt. Diese zeichnen sich freilich gerade nicht durch ein höheres Maß an Informationsqualität aus, sondern vor allem durch das gänzlich fragwürdige Aufblähen von Halbwahrheiten zu angeblich absoluten Wahrheiten. Wer auf der Suche nach schlüssigen Erklärungen diesen Medien vertraut, der sitzt am Ende der Irrationalität anonymer Schwafler, wie etwa den sich als Lügen-Entlarver gerierenden „Nachtwächter“, auf. Darf ich fragen, wo da Dein Verstand bleibt?

Für mich ist das Virus unser gemeinsamer Feind, und es wäre eines seiner größten Triumphe, wenn es ihm gelänge, von dieser Tatsache abzulenken, indem es uns dauerhaft entzweite. Du sollst daher wissen, dass ich nach wie vor offen wäre für ein Gespräch. Nach all den Jahren der Freundschaft stellte ein totaler Gesprächsabbruch für mich auch emotional keine Lösung dar. Dazu müsstest Du allerdings bereit sein, die Pose eines Glaubenseiferers aufzugeben und der argumentativen Vernunft wieder ein Türchen zu öffnen. Denn ohne diskursive Vernunft lässt das Versprechen von Freiheit, um das es Dir doch geht, sich nicht einlösen: nämlich ohne Gewalt und angstfrei leben zu können. Dies aber können wir nur gemeinsam und nicht gegeneinander realisieren. Dass dieser Schritt Dir gelingen möge, dafür bleibt mir freilich einzig die Hoffnung. Herzliche Grüße. D.
Berlin, 18.11.2020″

Auf diesen, hier leicht gekürzt wiedergegebenen Brief habe ich bis heute keine Antwort erhalten.

Dieter Demuth
Dieser Artikel erschien zuerst in der Berliner Zeitung

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1 Kommentar

  1. Lieber Dieter Demuth, danke für die Veröffentlicheung deiner Zeilen. Sie sind beinahe gewaltfrei verfasst. Sehr schön. Alleine dein Name beeinhaltet für mich alles was es braucht, um ein friedliches Miteinander zu gestalten. Manchmal gelingt es mir sogar. Besonders muss ich auf meine Gedanken achten, wenn alte Wegbegleiter plötzlich keine Zeit mehr haben und sich mit dubiosen Ansichten oder ihrer vielen Arbeit herausreden wollen. Dannfühle ich mich faksch verstanden oder weggeschoben und unwichtig. Manchmal geht es sogar soweit, dass ich an mir selbst zweifle und denke dann einen Fehler gemacht zu haben um so abserviert zu werden. Aber ich weiß, dass dies natürlich Unsinn ist. Zweifeln nimmt einfach einen großen Teil in meinem Leben ein. Mich mit ehrlichen und liebevollen Menschen zu umgeben hat mir immer geholfen und so werde ich es auch weiterhin halten. Wer ab- oder wegdriftet darf das tun. Nur mitgehen muss ich eben nicht. In diesem Sinn wünsche ich Dir echte Freunde an deine Seite. Lieben Gruß von mir. Michael

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