„In allen Lüften hallt es wie Geschrei“

Vor 80 Jahren wurde der Dichter Jakob van Hoddis von den Nazis ermordet. Sein Gedicht „Weltende“ ist gespenstisch aktuell
Als vor 80 Jahren, am 30. April 1942, die ersten Patienten der Israelitischen Heilanstalt für psychisch Kranke in Sayn bei Koblenz deportiert wurden, war unter ihnen der Berliner Dichter Jakob van Hoddis. Das größte One-Hit-Wonder der deutschen Lyrikgeschichte und Verfasser des vielleicht bekanntesten Weltuntergangsgedichts wurde wahrscheinlich wenig später im Vernichtungslager Sobibor ermordet. Ob er seinen 55. Geburtstag am 16. Mai noch erlebt hat, ist ungewiss.

Van Hoddis hatte in seinem Leben nur eine kurze Schaffensphase bei klarem Verstand. Sie dauerte nicht einmal zehn Jahre. Auf dem Höhepunkt, 1910, wurde er von der damals schon bekannten Schriftstellerin Else Lasker-Schüler beschrieben: „Auf einmal flattert ein Rabe auf, ein schwarzschillernder Kopf blickt finster über die Brüstung des Lesepults. Jakob van? Er spricht seine kurzen Verse trotzig und strotzend, die sind so blank geprägt, man könnte sie ihm stehlen.“

Viel ist von van Hoddis zu Lebzeiten nicht gedruckt worden, und schon 1912 findet er sich das erste Mal in einem Sanatorium wieder. Aber sein Gedicht „Weltende“ von 1911, da war er 24 Jahre alt, darf bis heute in keiner Anthologie der wichtigsten Gedichte der deutschen Literatur fehlen. Es gilt als Hauptwerk des Expressionismus. Selten wurde mit so wenigen Worten so viel Gegenwart und Zukunft zu etwas Zeitlosem verdichtet.

Beeindruckt und beeinflusst

„Weltende“ hat viele Dichter beeindruckt und beeinflusst – von Johannes R. Becher über Peter Rühmkorf und Robert Gernhardt bis zu Wolf Biermann. Es ist ein Untergangs-Poem: Es sagt der Zeit seiner Entstehung, der des wilhelminischen Deutschlands, ihr Ende voraus. Das scheinbar fest Gefügte werde zerdrückt und unter Geschrei entzwei gehen – und so ist es gekommen. Johannes R. Becher, der mit van Hoddis persönlich bekannt war, beschrieb 1957 – damals war er DDR-Kulturminister – die „epochale Wirkung“ von „Weltende“: „Wir wurden durch diese acht Zeilen verwandelt.“ Bei ihm erscheint van Hoddis geradezu als Souffleur der sozialistischen Revolution: „Eine neue Welt sollte mit uns beginnen, und eine Unruhe schworen wir uns zu stiften, dass den Bürgern Hören und Sehen vergehen sollte.“ Und wer würde nicht daran denken, dass nur drei Jahre später der Erste Weltkrieg ausbrach und das alte Europa und die bourgeoise Welt zum Einsturz brachte?

Wolf Biermann, der das Gedicht 1998 vertont hat und noch heute gleich lossprudelt, wenn man ihn danach fragt, urteilt zurückhaltender. Seine These: „Weltende“ sei nicht die „seelen-seismografische Vorausahnung des Ersten Weltkrieges mitten im ewigen Kaiser-Wilhelm-Frieden“, als die man das Gedicht dann nach der Katastrophe 1914–1918 gedeutet hat. Im Vergleich mit den Schrecken des Ersten Weltkrieges und schon gar mit der Shoah sei van Hoddis’ „Weltende“ eher eine „drollige früh-dadaistische Cabaret-Idylle“ – und so hat Biermann sie auch musikalisch inszeniert.

Für diese nüchterne Einschätzung allzu großer poetischer Hellsichtigkeit spricht vieles. Sie schmälert aber keineswegs die Bedeutung des Gedichts, schon gar nicht für Biermann, bei dem Vertonungen der Werke anderer seltene Ausnahme sind. Jede Zeit hat ihr „Weltende“ – und das des van Hoddis passt irgendwie. In unseren Zeiten des Klimawandels und der Pandemie zuckt man unweigerlich zusammen, wenn man von wilden Meeren liest, die Dämme zerdrücken und davon, dass alle Menschen einen Schnupfen haben. Nicht nur für Wolf Biermann passt es gerade auch „makaber gut zu dem neuen Weltuntergang, den der KGB-Zar Putin im Kreml gerade vorbereitet“.

Jakob van Hoddis wurde am 16. Mai 1887 als Hans Davidsohn in Berlin geboren. Aus den Buchstaben seines Nachnamens formte er sich 1910 sein Pseudonym van Hoddis. Man muss annehmen, dass ihn auch antisemitische Erfahrungen dazu bewegten, seinen Namen zu ändern. Sein Vater war Arzt, die Mutter zog fünf Kinder groß. Ein weiteres, Hans’ Zwillingsbruder, starb bei der Geburt. Hermann Davidsohn war ein „Trotzjude“, als Naturwissenschaftler religiös unmusikalisch. Das Jüdische war ihm fremd, aber den Übertritt zum Christentum durch Taufe lehnte er ab. Mutter Doris war eine liberale Frau mit großen Bildungsidealen, die sich später dem Zionismus zuwandte und die Zeichen der Zeit richtig las. 1933 emigrierte sie im Alter von 75 Jahren, ihr Mann war da schon lange tot, nach Palästina.

Van Hoddis begann zwar 1908 zu studieren, aber sonderlich ernst nahm er das Studium wohl nicht. Vielmehr tauchte er in die Berliner Boheme ein. Sein Hörsaal wurde das Café des Westens – auch „Café Größenwahn“ genannt. Hier verbrachte er Tage und Nächte, entwickelte sich zum Dichter der jungen Großstadt Berlin.

Er war befreundet mit dem expressionistischen Maler Ludwig Meidner, der ihn auch porträtierte. Meidners Zeichnungen und Bilder von Berliner Caféhaus- und Straßenszenen wirken wie Illustrationen der Gedichte van Hoddis’. Der wurde 1911 wegen „Unfleiss“ von der Universität exmatrikuliert. Aber da hatte er schon als Dichter auf sich aufmerksam gemacht. 1909 gründete er mit anderen Künstlern und Intellektuellen den Neuen Club, der in Neumanns Festsälen in den damals gerade gebauten Hackeschen Höfen tagte. Eine Gedenktafel erinnert hier bis heute an den Dichter des „Weltendes“. Der Club veranstaltete das „Neopathetische Cabaret“, eine Art Vorläufer der auch heute noch beliebten Berliner Lesebühnen. „Nichts Geringeres als ein Umbau der Wirklichkeit aufgrund einer Transformation der allgemeinen Vorstellungswelt war das Endziel“ des Neuen Clubs, so der Philosoph Erwin Loewenson, ein weiterer Mitbegründer.

Waren die Vortragsabende anfangs noch eher private Veranstaltungen, so wuchsen sie bald zu Kulturereignissen mit mehreren Hundert Zuschauern heran. Van Hoddis entwickelte sich zu einem Star des Cabarets. Im Januar 1911 wird „Weltende“ erstmals in der Zeitschrift Der Demokrat veröffentlicht. Auch die bürgerliche Presse wurde auf das „Neopathetische Cabaret“ und van Hoddis aufmerksam. Sie schwankte zwischen Bewunderung und Verachtung. „Das kann ein Berliner Großstadtjüngling von 1910“, schrieb das Berliner Tageblatt: „Ein groteskes Verscapriccio nach dem anderen. Das tanzt und lacht und grinst und hat doch viel ernsteren Sinn.“ Und, noch von der domestizierenden Kraft der wilhelminischen Gesellschaft ausgehend: „Herr van Hoddis wird wahrscheinlich auch Kommerzien-, Justiz- oder Sanitätsrat werden. Dann aber wird ein Dichter an ihm verloren gegangen sein.“ Der Korrespondent der Münchner Allgemeinen Zeitung war dagegen überfordert von dem, was ihm in der Reichshauptstadt geboten wurde. Er wollte am liebsten fliehen: „Ein junger Mann, der sich J. van Hoddis nennt, nimmt auf dem Podium Platz und lächelt schon von vornherein schadenfroh über die gemißhandelten Zuhörer. Dann liest er so schnell seine Machwerke ab, dass man überrascht nicht mehr Zeit hat, an die Tür zu kommen.“

Schon bald traten erste psychische Krankheitssymptome auf. Im Oktober 1912 erfolgte eine erste zwangsweise Einlieferung in die Heilanstalt Waldhaus Nikolassee. Nach wenigen Wochen floh er, hielt sich danach in München, Paris und Heidelberg auf. 1914 trat er wieder in Berlin auf, aber Ende des Jahres begann mit seiner Unterbringung in einer Klinik in Thüringen endgültig sein Leben in Behandlung, 1926 wurde er entmündigt. Am Ende musste seine Familie ihn ganz alleine in Deutschland zurücklassen.

Alle noch lebenden Familienmitglieder – zwei Schwestern und die Mutter – flohen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Palästina, folgten dem schon 1921 dorthin ausgewanderten Bruder Ernst. Der zweite Bruder Ludwig war 1915 in Nordfrankreich gefallen. Es war wohl unmöglich, den schwer psychisch Kranken in das ungewisse und beschwerliche zionistische Abenteuer mitzunehmen. Die Familie tat alles, um ihn möglichst gut unterzubringen. Jakob van Hoddis wurde in der Israelitischen Heilanstalt in Bendorf-Sayn untergebracht, einem gepflegten Sanatorium. Dort konnte man ihn durch die Gartenanlagen streifen sehen. Zeit seines Lebens war er zu Fuß in Bewegung gewesen. Seit 1915 soll er immer wieder gesagt haben: „Ich habe am Wannsee Rosen gepflückt und weiß nicht, wem ich sie schenken soll.“

Hans Davidsohns Nachfahren in Israel treibt bis heute um, dass 1933 ein krankes Familienmitglied in Deutschland zurückgelassen werden musste, auch wenn die Vernichtungsexzesse der Nazis damals noch nicht abzusehen waren. „Er war zwar sehr gut untergebracht, aber die Vorstellung, dass er allein zurückbleiben musste, ist schrecklich“, sagt Dorit Beller, die Urenkelin von Davidsohns Schwester Anna. Die Nachfahren setzen sich heute sehr für sein Erbe ein, nachdem der Dichter zwischenzeitlich selbst in der eigenen Familie in Vergessenheit geraten war.

Fruchtbare Beziehung

Unter Vermittlung der deutschen Journalistin Irene Stratenwerth ist in den letzten 20 Jahren eine fruchtbare kulturelle Beziehung zwischen Israel und Berlin entstanden. Es kam zu einer Ausstellung über van Hoddis in der Synagoge an der Oranienburger Straße, und 2019 ermöglichte die Familie die Übersetzung und Publikation ausgewählter Gedichte ins Englische, um sie einem größeren Leserkreis zugänglich zu machen. Die Vorstellung des Buches fand nicht in Jerusalem oder Tel Aviv statt, sondern in Berlin.

Wenn Dorit Beller heute durch die Stadt läuft, berührt es sie sehr, dass ihr Vorfahre einmal zur kulturellen Avantgarde Deutschlands gehörte und Teil der Berliner Boheme war. Als Bürgerin Israels, einem permanent bedrohten Land, fragt sie, was der letzte Auslöser war, der ihre Familie zum Entschluss brachte, sich auf „dieses zionistische Abenteuer“ einzulassen. „Wann ist der Zeitpunkt, um sich und seine Kinder in Sicherheit zu bringen?“ Eine schreckliche Frage, die sich Millionen von Menschen auf der ganzen Welt stellen. Jetzt, im Frühjahr 2022, auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft in Europa. Für zahllose Menschen in der Ukraine geht gerade die Welt zu Ende.

Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut
In allen Lüften hallt es wie Geschrei
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten liest man steigt die Flut
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Aurora
Nach Hause stiefeln wir verstört und alt,
Die grelle, gelbe Nacht hat abgeblüht.
Wir sehn, wie über den Laternen, kalt
Und dunkelblau, der Himmel droht und glüht.
Nun winden sich die langen Straßen, schwer und fleckig, bald, im breiten Glanz der Tage.
Die kräftige Aurore bringt ihn her,
mit dicken, rotgefrorenen Fingern, zage.

Ralf Gebel

Ralf Gebel ist Historiker und lebt in Berlin. Sein Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung.

 

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