Ohne eine unabhängige Ukraine wird es keine Erinnerung an Babyn Jar geben

Babyn Jar ist ein tief einge­schnit­te­nes Tal auf dem Gebiet der ukrai­ni­schen Haupt­stadt Kiew, in dem Einsatz­grup­pen der Sicher­heits­po­li­zei und des SD am 29. und 30. Septem­ber 1941 mehr als 33.000 jüdi­sche Männer, Frauen und Kinder ermor­de­ten. Dies war eines der größ­ten Massa­ker an Juden im Zwei­ten Welt­krieg.

Das Russ­land Wladi­mir Putins hat kein Inter­esse an der Aufar­bei­tung des Massen­mords an den Juden. Am 1. März grif­fen russi­sche Trup­pen mit Rake­ten­be­schüs­sen den Kiewer Fern­seh­turm – ein reines Zivil­ob­jekt – an. Dabei sind fünf Zivi­lis­ten getö­tet und mindes­tens fünf weitere verletzt worden. Eine Rakete traf dabei das Gelände der Gedenk­stätte des Babyn Yar Holo­caust Memo­rial Center (BYHMC).

Über­reste des Geschos­ses sind einige Tage später nur einige Hundert Meter von der letz­ten Mai einge­weih­ten symbo­li­schen Synagoge gefun­den worden. Die Synagoge, die quasi über dem Boden schwebt und sich wie ein Buch öffnet, wurde vom Schwei­zer Archi­tek­ten Manuel Herz entwor­fen. Herz schrieb nach dem russi­schen Beschuss: “Ich wollte ein Gebäude entwer­fen, in dem Juden beten können, das aber auch für Besu­cher und die Bürger von Kiew offen ist. Es sollte ein Ort sein, an dem sie gemein­sam die Schön­heit des Lebens zele­brie­ren können.” Ob und wann dies wieder der Fall sein wird, bleibt offen.

Die Leitung der Gedenk­stätte verur­teilte die russi­sche Inva­sion aufs Schärfste, insbe­son­dere hinsicht­lich der Recht­fer­ti­gung für den Angriff. Der Israeli Natan Scha­r­an­ski, Vorstands­vor­sit­zen­der des BYHMC, brachte die Kritik auf den Punkt: “Putins Versuch, den Holo­caust zu verzer­ren und zu mani­pu­lie­ren, um eine ille­gale Inva­sion in ein souve­rä­nes demo­kra­ti­sches Land zu recht­fer­ti­gen, ist zutiefst verab­scheu­ungs­wür­dig”.
Scha­r­an­ski kennt als Grün­dungs­mit­glied der Moskauer Helsinki-Gruppe und sowje­ti­scher Dissi­dent den mani­pu­la­ti­ven Umgang mit Geschichte allzu gut. Der wissen­schaft­li­che Beirat unter Vorsitz des Fran­zo­sen Patrick Desbois hat sich in einem offe­nen Brief an den Chef­an­klä­ger des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs, Karim Khan, gewandt und Putins Vorwand, die Ukraine würde einen Geno­zid im Donbass bege­hen, als Lüge bezeich­net.

Die meis­ten Mitar­bei­ter des BYHMC flohen mit ihren Ange­hö­ri­gen nach Lwiw. Einige melde­ten sich beim Mili­tär, um die Stadt gegen die russi­schen Trup­pen zu vertei­di­gen. Umso zyni­scher ist es, die Gedenk­stätte als ein “russi­sches Projekt” zu bezeich­nen, wie mitun­ter zuletzt gesche­hen. Es ist ein ukrai­ni­sches und inter­na­tio­na­les Projekt, um an einem der größ­ten Tatorte des Holo­causts durch Erschie­ßun­gen würdig an das Verbre­chen zu erin­nern und die welt­weite Beach­tung zu gewin­nen, die dieser Ort verdient.

Seit dem Fall der Sowjet­union wurden in Babyn Jar Museen und Gedenk­orte ange­kün­digt und wieder fallen gelas­sen. Erst in den letz­ten Jahren kann durch das BYHMC Bewe­gung in die Sache, auch weil die Stadt­ver­wal­tung und zuletzt auch Selen­skyj – als erster Präsi­dent des Landes – die Errich­tung einer Gedenk­stätte unter­stütz­ten.

In Russ­land inter­es­siert man sich für den Holo­caust nur margi­nal und für Babyn Jar schon gar nicht. Ein Museum für den Holo­caust der russi­schen oder sowje­ti­schen Juden gibt es in Russ­land nicht. Daher war und ist es nicht im Inter­esse Putins, dass ein solches Museum auf dem Gebiet der Ukraine entste­hen könnte. Schon gar nicht ein Muse­ums­kom­plex des BYHMC, dessen erster Teil sich mit dem Verges­sen und Verdrän­gen der Babyn-Jar-Tragö­die und des Holo­causts während der Sowjet­zeit beschäf­tig­ten soll.

Statt zum wieder­hol­ten Male sich mit dem – spätes­tens jetzt – ersicht­lich künst­li­chen Problem eines „russi­schen“ oder „ukrai­ni­schen“ Projek­tes ausein­an­der­zu­set­zen, sei an dieser Stelle an die bishe­ri­gen Fort­schritte des BYHMC erin­nert.
Neben den archi­tek­to­ni­schen und künst­le­ri­schen Projek­ten hat das BYHMC mehr als 28.000 Namen der jüdi­schen Opfer, die in Babyn Yar ermor­det worden sind, rekon­stru­ie­ren können. Ein weite­res Projekt befasst sich mit den Iden­ti­tä­ten der deut­schen Täter, von denen bereits 160 Namen veröf­fent­licht worden sind.

Die letz­ten Jahre haben gezeigt, dass die Aufar­bei­tung des Holo­causts sehr wohl Teil der ukrai­ni­schen Iden­ti­tät gewor­den ist. Ohne eine unab­hän­gige Ukraine wird es daher keine Erin­ne­rung an Babyn Jar und den Holo­caust in der Ukraine geben.

Andrej Uman­sky
Berli­ner Zeitung
Der Autor ist Histo­ri­ker und Jurist. Er lebt in Köln und fungiert als stell­ver­tre­ten­der Vorsit­zen­der des wissen­schaft­li­chen Beira­tes des Babyn Jar Holo­caust Memo­rial Center.

Beitrags­foto: Сарапулов, CC BY-SA 4.0

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