Mein Leben in Berlin

Man spricht heut nach der Wieder­vereinigung viel vom Bezirk Mitte in Berlin. In diesem Bezirk wurde ich am 29. Juli 1921 gebo­ren — in einem großen Eckhaus, ganz in der Nähe vom Märki­schen Museum, Janno­witz­brü­cke. Das Haus steht heute noch und es sieht noch genauso aus wie vor 70 Jahren. Ich bin also ein “Mitte-Kind”.
Ich hatte eine sehr schöne Kind­heit — zuerst war da noch mein Groß­va­ter, der mich sehr verwöhnte. Opa war sehr zucker­krank, er lag im Betha­nien-Kran­ken­haus, und ich durfte ihn dort einmal besu­chen. Als ich den Opa sah, sagte ich: “Opa hat genau so ein Gitter­bett wie ich.” Inter­es­sant ist in diesem Zusam­men­hang viel­leicht auch dieses: Der behan­delnde Arzt sagte zu meiner Groß­mutter: “Wir haben ein neues Mittel für die Zucker­krank­heit. Es heißt Insu­lin” — das war 1925! In diesem Jahr wurde es also zum ersten Mal ange­wandt.
1928 kam ich in die Volks­schule, ganz in der Nähe der Wohnung, und ich habe heute noch zwei Freun­din­nen, mit denen ich in einer Klasse war. Wir kommen heute noch oft zusam­men. Vater war selbst­stän­di­ger Handels­ver­tre­ter für Schuh­wa­ren, er war viel unter­wegs in den Ländern Sach­sen, Thürin­gen, Meck­len­burg, Schles­wig-Holstein. Er hatte 1929 den Führer­schein gemacht und er war mit seinem DKW immer “auf Achse”.

Ich kam dann 1932 mit meinen Freun­din­nen in das Vikto­ria-Ober­ly­zeum in der Prin­zen­straße — heute Hein­rich-Heine-Straße. Wir hatten eine jüdi­sche Direk­to­rin und viele jüdi­sche Klas­sen­ka­me­ra­din­nen. 1933 kam dann der große Umschwung — wir beka­men einen neuen Direk­tor, und die jüdi­schen Schü­le­rin­nen wurden aus der Schule ausge­schlos­sen.
Die Schule habe ich ganz gut “durch­lau­fen”. Es wurde viel Wert auf Sport gelegt, ich war die Ruder­wiege der Schule und habe sogar die “Steu­er­manns­prü­fung für kleine Sport­boote auf Binnen­ge­wäs­sern” abge­legt. Wir muss­ten auch ein Sport­ab­itur in Leicht­ath­le­tik und Gerä­te­tur­nen machen. Die münd­li­chen und schrift­li­chen Prüfun­gen muss­ten im Physik­saal statt­fin­den, weil das der einzig beheiz­bare Raum in der Schule war.

Nach dem Abitur wurde ich zum Arbeits­dienst einge­zo­gen. Ich kam in ein ganz klei­nes “Klein­sied­ler­dorf” in Ostpreu­ßen. Es war wirk­lich am Ende der Welt, aber es hatte den Vorzug, nur 30 km von Königs­berg entfernt an der Straße nach Preu­ßisch Eylau zu liegen. So fuhren wir oft, wenn wir mal einen Sonn­abend frei hatten, nach Königs­berg, um uns ein paar Lecke­reien — Scho­ko­lade usw. — zu kaufen. Der Ausflug endete dann am Schloss­teich im Cafe Schren­ner, wo wir wiederum um Kuchen und Scho­ko­lade baten.
Eine sehr schöne Erin­ne­rung habe ich an diese Zeit! Wir mach­ten eine Radtour über die Kuri­sche Nehrung — Rossit­ten — Pill­kop­pen — Nidden — bis nach Memel. Auf der Straße durf­ten nur Pfer­de­wa­gen und Räder fahren. Es war sehr beein­dru­ckend in den Dünen zu liegen — man merkte, wie der Dünen­sand über uns wehte. Es erin­nerte mich an das Gedicht von Agnes Miegel: “Die Frauen von Nidden”.

Inzwi­schen hat mein Vater sich um meine Berufs­aus­sich­ten geküm­mert. Eigent­lich wollte ich Chemie studie­ren. Nach Auskunft der Berufs­be­ra­tung war dieser Beruf für Mädchen sehr aussichts­los, da nach dem Krieg diese Sparte für Männer vorbe­hal­ten blieb. Man schlug meinem Vater den Beruf der medi­zi­nisch tech­ni­schen Assis­ten­tin vor. Ich hatte davon noch nie gehört, aber wie sich später heraus­stellte, war er gerade das Rich­tige für mich. Im Septem­ber 1940 war die Arbeits­dienst­zeit zu Ende. Mit 135 Pfund kam ich nach Berlin zurück, vorher wog ich 108 Pfund!
Ich kam dann in die staat­lich aner­kannte Lehr­an­stalt für medi­zi­nisch-tech­ni­sche Assis­ten­tin­nen Dr. Gill­meis­ter. Er hatte eine Klinik für Innere Krank­hei­ten, ange­schlos­sen die Lehr­an­stalt. Ich habe die Ausbil­dung dort sehr gern gemacht. Dr. Gill­meis­ter war ein ausge­zeich­ne­ter Lehrer, hatte allein für die Lehr­an­stalt vier Rönt­gen­ap­pa­rate.
Nach 2 Jahren machte ich dort die Prüfung mit gut 4 und wurde dann dienst­ver­pflich­tet in das Staats-Kran­ken­haus der Poli­zei in der Scharn­horst­straße. Es war ein großes Kran­ken­haus mit allen medi­zi­ni­schen Abtei­lun­gen. Auch dort habe ich sehr gern in der Rönt­gen­ab­tei­lung gear­bei­tet — ich hatte eine Kolle­gin, die in meinem Alter war, mit der ich heute noch befreun­det bin.
Im Februar 45 wurden wir ausge­bombt im Bezirk Mitte. Wir lebten dann bei Verwand­ten in Schö­ne­berg, in dem Bezirk, in dem ich heute noch lebe.

Das Ende des Krie­ges kam näher — wir arbei­te­ten dann im Bunker des Kran­ken­hau­ses, der einen Opera­ti­ons­saal, Rönt­gen­ap­pa­rat, Dunkel­kam­mer und ein Zimmer mit Betten hatte. Wir hatten sehr viel zu tun mit Verwun­de­ten. Auch nach­dem das Kran­ken­haus von russi­schen Trup­pen besetzt wurde, haben wir diese versorgt.
Ein sehr trau­ri­ges Erleb­nis hatte ich in den letz­ten April­ta­gen. Mein Vater war bei einem Bomben­an­griff ums Leben gekom­men. Das Schreck­lichste war, dass man mir im Beer­di­gungs-Insti­tut sagte: “Die Toten der Runge­straße haben wir in Papier­sä­cken auf dem Dankes-Fried­hof in Reini­cken­dorf beer­digt.”
Meiner Mutter habe ich nichts davon gesagt. Ich lebte mit meiner Mutter weiter im Bezirk Schö­ne­berg, wo wir eine kleine Wohnung beka­men, ganz in der Nähe des Rathau­ses.
Ich arbei­tete weiter im Kran­ken­haus, das nun von der Ost-Berli­ner Regie­rung bzw. Poli­zei gelei­tet wurde.
Inzwi­schen gab es eine West-Berli­ner Poli­zei — gelei­tet von Dr. Stumm. Von den Ameri­ka­nern wurde ihm gesagt, dass ein west­ber­li­ner Poli­zei-Kran­ken­haus einge­rich­tet werden sollte. In einer — ich möchte sagen — Nacht- und Nebel­ak­tion benach­rich­tigte er die Ange­stell­ten im Osten — er forderte uns auf, an einem bestimm­ten Tag ins Poli­zei­prä­si­dium zu kommen; es kamen ca. 80 Ange­stellte aus dem Poli­zei-Kran­ken­haus Ost in den Westen. Da saßen wir nun in der Frie­sen­straße und “harr­ten der Dinge, die da kommen soll­ten”. Es dauerte nicht allzu lang, da kam die Nach­richt, dass kein West-Berli­ner Kran­ken­haus einge­rich­tet wird. Dr. Stumm hat es fertig gebracht, keinen der Ange­stell­ten zu entlas­sen, sondern alle, ob Apothe­ker, Schwes­tern, Büro­an­ge­stellte in West-Berli­ner Betrie­ben unter­zu­brin­gen.
Ich kam in das Gesund­heits­amt Schö­ne­berg in die Tuber­ku­lose-Fürsor­ge­stelle. Ich habe mich an die Arbeit dort bald gewöhnt und habe auch dort gern gear­bei­tet, obwohl man sehr vorsich­tig sein musste und es manch­mal etwas einsei­tig war, immer nur Lungen zu rönt­gen! Es war aber auch ein sehr gutes Betriebs­klima, wie man das so nennt, und ich war sehr zufrie­den.

1981 wurde ich 60 Jahre alt, gab die Arbeit auf und wurde Rent­ne­rin. Ich lebte mit meiner Mutter zusam­men, wir haben schöne Reisen gemacht, bis in den Chiem­gau, ich selbst habe Städ­te­rei­sen nach Paris, Wien, Zürich gemacht. Meine Mutter starb 1983 nach ganz kurzer Krank­heit, ich war dann allein.

Karola W., Januar 1996

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2 Kommentare

  1. Schön geschrie­ben… nur… es war ja schöne Zeit bei Königs­berg… das glaube ich… Scho­ko­lade… und paar Kilo­me­ter weiter wurden die Leute vergast

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