lngeborg Drewitz: Moabit

Inge­borg Drewitz (1923 bis 1986) war eine Berli­ner Schrift­stel­le­rin, nach ihr ist im Südos­ten Moabits eine Straße benannt. Sie war die erste Schrift­stel­le­rin Deutsch­lands, die nach der NS-Zeit einen Roman über Konzen­tra­ti­ons­la­ger schrieb. Auch sonst war Drewitz gesell­schaft­lich sehr aktiv, enga­gierte sich für Frau­en­rechte und die Rechte von Schrift­stel­le­rIn­nen und AutorIn­nen sowie bei amnesty inter­na­tio­nal
In ihrem erfolg­reichs­ten Roman “Gestern war Heute: Hundert Jahre Gegen­wart”, der 1978 veröf­fent­licht wurde, beschreibt die Geschichte einer Berli­ner Arbei­ter­fa­mi­lie von 1878 bis 1978 vor allem aus Sicht der Frauen. In ihm erschie­nen auch einige Texte über Moabit. Diese werden hier wieder­ge­ge­ben.

Moabit 1923, Geburt
Zum wieviel­ten Mal hat er das Karree umkreist? Lübe­cker Straße, Perle­ber­ger Straße, Strom­straße, Turm­straße, Lübe­cker Straße, Perle­ber­ger Straße, Strom­straße, Turm­straße. In den kahlen Bäumen des Klei­nen Tier­gar­tens auf der ande­ren Seite der Turm­straße sirrt der Wind, der die Wolken jagt. Im Hof der Braue­rei ist Licht, aber die brauen nicht über Nacht. Wird der Nacht­wäch­ter sein, der die Reich­tü­mer bewacht, süßli­che Rüben, Hopfen in Säcken, Bier, flüs­si­ges Gold …
Wieder vorbei an der Haus­tür, er fühlt den Schlüs­sel in der Mantel­ta­sche, könnte aufschlie­ßen, nach oben gehen, die Tür aufsto­ßen, die Kälte noch in der Klei­dung. Ist es endlich so weit? Aber die Hebamme hat gesagt, dass es bis zum Morgen dauern wird und dass er besser nicht dabei ist. Frau­en­sa­che, wissen Sie! … Aber er holt nicht weiter aus, geht nicht zur Spree und bis zum Borsig­steg oder zur Putlitz­straße, wo er auf die Gleise und auf die Kanäle sehen kann, wo die Regen­schnee­sträh­nen ihn ins Gesicht tref­fen, wo er darüber nach­den­ken kann, warum die Straße Putlitz­straße, der Bahn­hof Putlitz­straße heißen, und keine Antwort weiß. Immer ums Karree wie ein ange­ket­te­ter Hund, Lübe­cker Straße, Perle­ber­ger, Strom­straße, Turm­straße.
Wird in die Fabrik gehen morgens, wenn das Kind noch nicht da ist. Durch­fro­ren, müde, weil sie ja leben müssen, er, Susanne, und dann auch das Kind. Und das Geld taugt nicht, was er verdient, taugt jeden Tag weni­ger, taugt mittags schon nicht, wenn die Frauen in der Hutten­straße am Fabrik­tor warten, weil dann ausge­zahlt wird. Wie soll das weiter­ge­hen? Wand an Wand mit den Alten. Wenn das Kind schla­fen will, auf Zehen­spit­zen gehen, flüs­tern. Und wenn das Kind spie­len will, wird kein Platz mehr im Zimmer sein fürs Reiß­brett, für seine Entwürfe, seine Pläne. Wenn das Kind da ist.

Moabit 1929, Weih­nach­ten
Regen, schräg vorm Wind herge­trie­bene Regen­sträh­nen, gegen die die Menschen sich anstem­men oder vor denen sie sich wegdu­cken. lm Klei­nen Tier­gar­ten stehen die Pfüt­zen, vor den Gullys staut sich das Wasser. Die Tannen­bäume, die der Händ­ler gegen das Seil gelehnt hatte, das zwischen Laterne und Laterne gespannt ist, sind umge­stürzt, viel zu viele noch für den Nach­mit­tag des 24. Dezem­ber. Aber wer kauft schon einen Tannen­baum, wenns nichts zu feiern gibt! Der Händ­ler in einem alten, blank­ge­rie­be­nen Mantel mit Samt­spie­geln aus besse­ren Tagen bückt sich, rich­tet einen Baum auf, schüt­telt ihn, rich­tet den drit­ten Baum auf, schüt­telt ihn, rich­tet den vier­ten, fünf­ten, sechs­ten Baum auf, den sieben­ten, den achten …
Friede auf Erden und den Menschen ein Wohl­ge­fal­len. Klingt schön. Die jetzt noch auf der Straße sind, denken sicher nicht dran, Frauen und Männer in abge­nutz­ten Mänteln, Kinder, die einen Hand­wa­gen ziehen und, als sie an ihm vorbei­kom­men rufen: Brau­chen Sie Kuchen? Der letzte Napf­ku­chen mit Rosi­nen für heute Abend! Und noch einmal rufen, als sie schon an ihm vorbei sind: Kuchen! Brau­chen Sie Kuchen? … Die Geschäfte haben schon geschlos­sen. Nur der mit den Bäumen, der steht da noch und rich­tet die Bäume auf. Wenn die Stra­ßen­bahn hält, viel­leicht steigt da doch einer aus, der noch einen Baum braucht.
Viel­leicht.
Die Stra­ßen­bahn hält und niemand steigt aus und niemand steigt ein. Heute Fahrer sein und Schaff­ner, das ist auch was. Nachts kommen die Betrun­ke­nen und rempeln den Schaff­ner an und den Fahrer. Und die können sich nicht wehren, müssen Dienst tun. Aber immer­hin Dienst tun. Nicht über­flüs­sig sein. Verdammt.

Moabit, 1942
Morgen ist der Schnee noch weiß und macht die nacht­dunk­len Stra­ßen freund­lich, dämpft die Schritte, liegt wie eine Bordüre auf dem Gelän­der der Lessing­brü­cke, treibt auf den Eisbret­tern der Spree flussab, hat die Stra­ßen­bäume einge­webt. Nur vor dem Bahn­hof tref­fen die Tritt­spu­ren zusam­men und haben das Weiß verschmutzt, im Schal­ter­raum bleibt schwar­zer Brei zurück. Die Züge, die im Fünf­mi­nu­ten­ab­stand in beide Rich­tun­gen fahren, sind voll, Gesich­ter hinter Zeitun­gen, hinter Mützen und hoch­ge­schla­gene Kragen verkro­chen. Niemand spricht. Stalin­grad auf der ersten Seite der Zeitun­gen, es soll Weih­nachts­son­der­zu­tei­lun­gen geben.

Moabit, Früh­jahr 1945
Die Kasta­nien im Klei­nen Tier­gar­ten blühen so früh wie noch nie. Vater kann nicht mehr nach Ober­schö­ne­weide. Ulrike kann nicht mehr nach Bernau, Gabriele kann nicht mehr nach Steglitz. Die Spree­brü­cken sind gesprengt. Nahkampf von Stra­ßen­ecke zu Stra­ßen­ecke. Die Bäcker verba­cken die Mehl­vor­räte, freie Roggen­bröt­chen, anste­hen im Nahkampf­ge­biet, Mensch an Mensch in Flur und Back­stube gedrängt, viel­leicht ist die Front schon vorüber, wenn man die Bröt­chen hat. Einem Jungen, der im Haus­ein­gang lehnt, ein Bröt­chen geben. Seine Kinder­au­gen, und wie er das Bröt­chen in den Brot­beu­tel stopft und geduckt und mit dem Gewehr in der Hand weiter­rennt bis zum nächs­ten Haus­ein­gang.

Moabit, Herbst 1976
Ehe die Besu­cher der Unter­su­chungs­haft­an­stalt Moabit um 10 Uhr einge­las­sen werden, drän­gen sie sich vor dem Portal so eng anein­an­der, als müsse einer den ande­ren über­run­den. Aber viel­leicht suchen sie auch nur die Wärme der ande­ren. Oder verkrie­chen sich in der anony­men Menge.
Der Wind hat die Baum­kro­nen leer­ge­fegt. Vertrock­nete Blät­ter wirbeln über den Rasen, decken die Tritt­spu­ren zu, das schä­big gewor­dene Grün. Auf der ande­ren Stra­ßen­seite hält ein Unfall­wa­gen, wird eine Bahre heraus­ge­ho­ben. Unfall? Selbst­mord? Schlag­an­fall?
Das tägli­che Unglück …
Die ersten Besu­cher werden aufge­ru­fen und an der Tür von Beam­ten erwar­tet. Bei jedem Aufruf verstum­men die Gesprä­che, bis die Tür zuschnappt und die Sätze sich wieder verknäu­len: Meiner nu schons dritte Mal, immer wieder krib­belts den und er mussn Auto knacken. — Wenn der Dieter so ins Kauf­haus kommt, ich verstehs nich, son lieber Junge, muss sich doch nich immer wieder erwi­schen lassen. — Unse­rer, wo der doch keine Mutter hat, jeden Wunsch hat er erfüllt je kriegt. Und nu allet für nischt!

Foto I. Drewitz: Bundes­ar­chiv, Bild 183-Z1213-027 / Senft, Gabriele / CC-BY-SA 3.0

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