Dereinst — jetzt

Gendarmenmarkt 1822, Künstler: Carl Hasenpflug

Als die beiden voraus­gehenden Texte (Jäger­straße und Tauben­straße von Ost nach West) in den Zeitun­gen erschie­nen, haben sie manchen nicht gefal­len. “Sie wollen uns doch nur schlecht machen … wahr­schein­lich sind Sie in der NSDAP-Nach­fol­ge­par­tei CDU … Nur ausspu­cken kann man vor Ihnen.” Naja, dazu kann man nichts sagen. Da ist einer aus der Zeit ausge­tre­ten und hat sie vorüber­zie­hen lassen, nun wundert er sich, dass sie weg ist und ruft ihr ein entschlos­se­nes “Halt!” hinter­drein. In gewis­sem Sinne geht es uns allen so. Weil wir Wesen aus Zeit sind. Ein ganz ande­rer Leser schrieb mir: “Trau­rig. trau­rig” und meinte es gerade umge­kehrt. Habe ich mich über Tauben- und Jäger­straße ganz miss­ver­ständ­lich ausge­drückt, zu nieder­drü­ckend, nicht recht erhe­bend? Fast einen ganzen Tag habe ich vorges­tern dort verbracht, um diese Frage zu beant­wor­ten. Ich kam vom Fried­hof am Mehring­damm. Auf Hoff­manns Grab lag eine weiße Schleife, gold­far­ben bedruckt: “Unse­rem E.T.A.H. / zum 175. Todes­tag”. Wer gebraucht hier, über­lege ich mir auf dem Weg zum U‑Bahnhof Halle­sches Tor, in Bezug auf Hoff­mann das besitz­an­zei­gende Fürwort, da er uns doch allen gehört, sofern wir ihn nur lesen? Ich bin jetzt auf dem Weg zu seinem Wohn- und Ster­be­haus. Fran­zö­si­sche Straße steige ich aus em Unter­grund hervor, da stehe ich mitten auf der Fried­rich­straße, blicke nach Norden und Süden. Die Fried­rich­straße ist wieder eine Straße, nicht nur die Erin­ne­rung an eine Straße wie Jahr­zehnte lang.

Die Blumen­ver­käu­fe­rin hier ist ein ganz hübsches Mädchen, stre­bend nach höhe­rer Kultur des Geis­tes; sowie sie der Handel nicht beschäf­tigt, liest sie. Ein lesen­des Blumen­mäd­chen ist für einen belle­tris­ti­schen Autor ein unwi­der­steh­li­cher Anblick. Ich fasste mir ein Herz, trat heran, fragte: Was lesen Sie denn da, mein schö­nes Kind? Alle Himmel, es war wirk­lich ein Werk­lein von mir. “Wie gefällt Ihnen das Buch?” “O das ist ein ganz schna­ki­sches Buch, bald muss man lachen, bald ist einem weiner­lich zumute.” “Hier mein süßer Engel”, lispelte ich, “steht der Autor dieses Buches vor ihnen.” Sie starrte mich sprach­los an, mit großen Augen und offe­nem Munde.
Ich suchte ihr auf alle mögli­che Weise die Iden­ti­tät mit dem Verfas­ser des Buches darzu­tun. Nichts entschlüpfte ihren Lippen als “Hm-so‑I das wäre-wie”. Das Mädchen fand sich, hatte niemals daran gedacht, dass die Bücher, welche sie liest, zuvor geschrie­ben werden müssen. Es kam der fromme kind­li­che Glaube an Licht dass der liebe Gott die Bücher wach­sen lasse wie die Pilze.

Da war ich auf dem Gendar­men­markt, Anfang Juni 1822.
Ich war bei Möhring, betrach­tete, wie an der fran­zö­si­schen Kirche ein Arran­ge­ment aufge­baut wird, für jeman­den, der heute Abend hier Gäste empfan­gen will, viel­leicht wird er, hoffe ich, hinauf­zei­gen zu dem Hoff­mann-Fens­ter und sagen: Dort, dort oben. Der Gendar­men­markt wird als Adresse immer belieb­ter. Man fängt wieder an, seinen Freun­den und jenen, die es werden wollen, zu sagen: “Morgen auf dem Gendar­men­markt…”
Auf der gegen­über liegen­den Stra­ßen­seite folge ich in ange­mes­se­nem Abstand einer Touris­ten­gruppe, die sich von einem Weiß­be­jack­ten die histo­ri­schen Orte erklä­ren lässt. Jetzt stehen sie vor der Jäger­straße 54. Der Stadt­his­to­ri­ker wird jetzt über Rahel Levin reden.

Ich gehe in das Haus zu dem Geld­au­to­ma­ten. Als ich meine Karte einge­scho­ben habe, verkün­det er mir: “Ihr Wunsch wird bear­bei­tet”. Welch eine Verhei­ßung … Einmal dabei sein, im Dach­ge­schoss oben, während Rahel mit Wilhelm von Humboldt spricht … nein, von dem will ich nichts wissen, aber von Alex­an­der, dem hier in der Jäger­straße Gebo­re­nen, Rahel fragt ihn nach Aimée, seinem Freund, den die Sehn­sucht zurück­ge­zo­gen hat in die grün­glän­zen­den Wälder. Über dem bin ich nun in der Höhe von Sat1, dessen Produkte — wie jener Leser schrieb — ich nicht hätte Medi­en­fast­food nennen sollen. Da über­fällt mich gera­dezu die Vorstel­lung, dass Sat1 mit seinen Rohren und Schüs­seln hier schon gewe­sen wäre, als die Barri­kade hier stand. Im Nu bin ich durch­ge­saust durch den Zeit­tun­nel, stehe zurück­ge­drückt in der Torein­fahrt, gegen­über der Belgi­schen Botschaft.

“Die Barri­kade an der Jäger­straße wurde alsbald von ihrer Besat­zung verlas­sen. Nur zwei Leute in Hand­wer­ker­tracht erwar­te­ten furcht­los den Feind. Der Ältere, der 19-jährige Schlos­ser­ge­selle Glase­wald, feuerte, erhielt aber sofort einen Schuss, der ihm den Arm zerschmet­terte. Die Barri­kade hatte jetzt nur noch einen Vertei­di­ger, den Schlos­ser­lehr­ling Ernst Zinna (17). Das Mili­tär rückte heran, der Knabe stürzte aus der Barri­kade hervor, sogleich entla­den sich 6 oder 8 Gewehre auf den kühnen Knaben, der, sich gewandt bückend, dem fast siche­ren Tode glück­lich entgeht. Er raffte nun drei Pflas­ter­steine auf und schleu­dert sie den nach der Tauben­straße vordrin­gen­den Solda­ten entge­gen. Von den vielen Kugeln, die man nun auf ihn abfeu­erte, hat ihn eine erreicht. Er bedeckte die heftig blutende Wunde des Unter­leibs mit seinen Händen, und flüch­tete sich in die geöff­nete Haus­tür, uner­schro­cken, kein Anzei­chen des physi­schen Schmer­zens in seinen Zügen. Bald darauf verschied er.”

Das war hier am 18. März 1848. Jener Lehr­ling Ernst Zinna, wohn­haft Jäger­straße 4 bei Leining, ist einer von denen, nach denen die BVV Mitte den Platz vor dem Bran­den­bur­ger Tor jetzt benen­nen will. Der Text, aus dem ich ihn eben hervor­ge­holt habe, ist aus einem Buch, das mir teuer ist. Es heißt: Der Vorkampf. Erschie­nen 1914. In diesem Jahr hat das Exem­plar, das ich besitze, mein Vater in Jena/Thüringen gekauft. Da war er fast so alt wie jener Zinna. Es war das Jahr, in dem man ihn zum ersten Mal in einen Welt­krieg schickte. Nicht Hölder­lin hatte er im Tornis­ter, sondern von Mieses die “Schach­meis­ter­par­tien” und dieses Buch. Am 18. Juni 1918 hat er es im Mari­ne­la­za­rett in Brügge ausge­le­sen, was er auf dem Innen­de­ckel vermerkt hat. Wenige Stel­len hat er ange­stri­chen; in dem obigen Stück die Wort­teile ‑geselle und ‑lehr­ling, denn er stammte aus einem Hand­wer­ker­haus. Und dann folgende Sätze: “Helden­tum ist eine wunder­volle Sache, … aber es muss echt sein. Und zur Echt­heit, auch in diesen Dingen, gehört Sinn und Verstand. Fehlt das, so habe ich dem Helden­tume gegen­über sehr gemischte Gefühle”. Von Fontane, 150 Jahre alt.

Neben mir bei Möhring nehmen drei kurz­ge­scho­rene Jung­män­ner Platz, goldene Ringe im Ohr, durch Handy beschrei­ben sie ihren Miet­zen — wie sie sich ausdrü­cken — ihren gegen­wär­ti­gen Stand­ort. “Wir sind hier … wie heißtn das hier … ja, Gendar­men­markt. Gleich beim Lafay­ette rechts rum … bis glei­heich, alles klar, okidoki.” Zur Zeit bin ich Unter­of­fi­ziers­an­wär­ter, erzählt einer der Jung­män­ner, wahr­schein­lich lande ich beim Panzer­korps. Er macht eine Spezi­al­aus­bil­dung, sagt er, schie­ßen geht jetzt ganz leicht, ich stelle die Entfer­nung ein, drücke den Knopf, fertig, ganz einfach. “Wir ham uns gerade über Schieß­übun­gen unter­hal­ten”, werden die ankom­men­den Mädchen instru­iert. “In der Bundes­wehr sind drei Sachen wich­tig: Mate­rial, Menschen und (die dritte hab ich verges­sen). Im Krieg kommt es bloß aufs Mate­rial an.” Die Mädchen stoßen sozu­sa­gen quit­tie­rend ein paar kurze hohe Töne aus. Hoch­mü­tig spre­chen sie mit der Servie­re­rin. Ich sehe zu Hoff­manns Fens­ter hinauf, “Ja, Vetter”, rief er mit einer Stimme, die mein Inners­tes … mit herz­zer­schnei­den­der Wehmut erfüllte: “Et si male nunc, non olim sic erit”. Wenn es jetzt auch schlecht geht, wird es einmal doch besser werden.

Jetzt sind wir aber beim Besser­wer­den, sagt am Abend meine Lebens­freun­din, als ich ihr meinen drama­ti­schen Tag zwischen Tauben- und Jäger­straße erzählte. Oder? Ich dachte an den Leser, der vor mir nur ausspu­cken kann. Der ist das viel­leicht ande­rer Meinung. Aber: “Sein Geist zieht sich in seine Klause zurück.”

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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