001 – Tobi

Begonnen hatte alles am 1. Mai 1987 in Berlin. West-Berlin. Kreuzberg. Zwar gab es noch ein paar besetzte Häuser, aber die meisten waren längst von der Polizei geräumt worden. Es hatte große Schlachten gegeben, viele Verletzte, und sogar ein paar Tote. Die Hausbesetzerszene hatte sich gespalten. Während sich die „Verhandlerschweine“ um Mietverträge bemühten oder die Häuser sogar kaufen wollten, lehnten die „Revolutionäre“ das natürlich ab. Ich gehörte zu denen, die das Mieten oder Kaufen der besetzten Häusern ablehnten. Für sowas hatte ich kein Geld. Es reichte mir schon, dass ich immer was zu unserer Hauskasse zusteuern sollte, obwohl ich doch gar keine Einnahmen hatte. Die anderen jobbten irgendwo, als Taxifahrer, als Sozialarbeiter oder in Kneipen. Oder sie waren Studenten und kassierten Bafög. Einer bekam sogar jeden Monat einen Scheck von Papi, der irgendwo in Bayern eine Baufirma besaß. Der dachte, dass sein Söhnchen in einer normalen Wohngemeinschaft lebt und das zu akzeptieren war für ihn schon schwer genug. Hätte er es wirklich mal zu Besuch nach Berlin geschafft, dann wäre es das wohl gewesen mit den Schecks.
Und dann war da noch Tobi, auch ein Student. Ständig war er in der Uni oder in Bibliotheken oder irgendwelchen Archiven. Er war wohl der einzige Student, den ich nicht verachtete. Na gut, vielleicht gab es auch noch ein paar andere, die ich in meiner klassenbewussten Weisheit zwar als objektiv auf der anderen Seite der Gesellschaftsbarrikade einordnete, subjektiv betrachtet wohnten sie aber auch im Haus und sorgten dafür, dass meistens was zum Futtern im Kühlschrank war.
Tobi studierte Politologie und Geschichte glaube ich. Auch die anderen Studies hatten solche Fächer, irgendwas mit Soziologie, Psychologie und ähnlichem Kram. Das blieb mir immer unverständlich. Eigentlich war Tobi der einzige Student hier, der in meinen Augen kein Spießer war. Er war überhaupt der Grund, dass ich hier wohnen konnte.

Seit 1980 war ich durch besetzte Wohnhäuser, Fabriken und Wohnungen gecruist, für ein paar Tage, manchmal einige Monate, ständig neue Leute, neue Geschichten und Schicksale. Und immer wieder Räumungen durch die Bullen oder Schlägertrupps, die von den Hauseigentümern angeworben waren.
Mein Kosmos war nur etwa drei Quadratkilometer groß, rund hier bin ich jahrelang kaum rausgekommen. Zu zwei Seiten stand die Mauer, zu einer lag der Landwehrkanal und dahinter Neukölln – da kam ich nie hin. Und Richtung Westen ging es nach Rest-Berlin, das interessierte mich auch nicht. Rund um die Oranienstraße war mein Zuhause und hier hatte auch meine „Karriere“ begonnen. Die besetzte Feuerwache in der Reichenberger Straße, das erste Besetzerprojekt, 1979. Ich war gerade volljährig geworden und spürte die Anarchie, es zog mich wahnsinnig an: Da waren lauter Leute wie ich, schmutzige Kinder, kiffende Jugendliche, militante Erwachsene erzählten von Straßenschlachten und alle hatten den Staat und die Polizei zum Feind.
Dort sah ich auch Tobi zum ersten Mal: Seine ewig langen Haare reichten noch über den halben Rücken, in seinem mädchenhaften Gesicht begannen unter der Nase die ersten Haare zu sprießen. Er war mit seinen Eltern dort und machte mit ihnen Musik. Ich wünschte mir sofort, sein Freund zu sein, aber ich war viel zu schüchtern, um ihn anzusprechen. Die Leute da hatten auch alle ihre eigene Mode, so kam es mir jedenfalls vor. Lange Schlabberpullover, Latzhosen, alles gefärbt, vor allem Rosa und Lila. Ich dagegen stand mit meiner engen Jeans da und hoffte, Tobi würde mich endlich mal bemerken. Er sollte aufstehen, seine Bongos zur Seite legen, mch anlächeln und dann auf mich zugehen, mich umarmen und küssen. Aber das tat er nicht. Er schaute nur auf meine jetzt noch engere Hose, lachte kurz und fing dann an, mit den anderen zu singen.

Kennengelernt habe ich ihn erst zwei Jahre später, mitten im heißesten Häuserkampf. Bei einem der Krawalle prügelte mich die Polizei auf einen Hinterhof. Als ich wieder aufwachte, lag ich auf dem Rücken, schaute in den schon dunklen Himmel und in ein besorgtes Frauengesicht.
„Vorsicht, du blutest stark, wir bringen dich lieber mal ins Krankenhaus.“
Das war keine gute Idee, weil ich erstens nicht versichert war und außerdem wusste, dass die Polizei nach Krawallen öfter durch die Krankenhäuser zieht und Leute verhaftet. Ich wollte widersprechen und versuchte aufzustehen, aber mir tat der ganze Körper weh. Sie hatten mir nicht nur den Kopf blutig geschlagen, sondern auch noch auf die Arme, Beine und den Rücken eingeprügelt. Und in meinem Kopf lief eine Waschmaschine im Schleudergang.
Langsam konnte ich auf dem Hof mehr erkennen: Ich lag neben den Mülltonnen mitten im Abfall. Jetzt erinnerte ich mich auch wieder, dass ich versucht hatte, über die Tonnen auf eine Mauer zu kommen und so vor der Polizei zu flüchten. Offensichtlich aber erfolglos.
Neben der Frau erschien nun ein Jungengesicht, umrahmt von langen, blonden Haaren.
„Na, ausgeschlafen?“, grinste er mich an.
„Statt blöde Sprüche zu machen, solltest du ihm lieber helfen, aufzustehen“, schnauzte die Frau ihn an.
Langsam brachten sie mich in die Fabriketage, in der der Junge wohnte. Hier war eine Jugendwohngemeinschaft eingerichtet worden, zwischen den kleinen Einzelzimmern gab es einen großen Gemeinschaftsraum mit einem riesigen Tisch. Mittlerweile nahm ich meine Umgebung wieder besser wahr, auch wenn das linke Auge ziemlich zugeschwollen war. Der Tisch war bis oben hin gedeckt mit Essen und Trinken, mehrere Käsesorten, Schinken, verschiedene Säfte, ein richtiges Paradies.
Ich hatte den Jungen schon erkannt, er war immer noch genauso schön wie zwei Jahre zuvor. Sein schmaler Körper wirkte fast schon zerbrechlich. Und schon wieder grinste er, schon fing ich an, diesen Gesichtsausdruck an ihm zu lieben.
„Die haben ganz schön zugehauen, wa?“
„Anscheinend.“
Die Betreuerin der WG kam mit einem nassen Wasserlappen: „Wenn du wüsstest, wie du gerade aussiehst…“
Sie wollte mir das Gesicht abwischen, aber der Schmerz ließ mich sofort aufschreien, die Wunden taten höllisch weh.
„Willst du wirklich nicht ins Krankenhaus?“
Eine Stunde später saß ich mit Tobi im Zimmer, wir waren mittlerweile allein in der Wohngemeinschaft. In seinem Spiegel sah ich, dass mein ganzes Gesicht dunkelrot war vom getrocktenen Blut. Er half mir, mich zu waschen. Nur den Schorf bekamen wir nicht aus den Haaren heraus.
Tobi machte uns einen Tee und bald saßen wir auf seinem Hochbett, nur ein einzelnes Teelicht brannte. Mit seinen schmalen Fingern streichelte er mir das Gesicht und ließ sich genau erzählen, was alles passiert war. Es war toll. Ich fühlte mich wie ein Held, der zurückgekehrt von der Schlacht von seinem Weibe verarztet und bewundert wird, während er von seinen heroischen Taten berichtet. Irgendwann war das Teelicht aus, wir legten uns nebeneinander und hielten uns gegenseitig fest. Von draußen hörten wir wieder Polizeisirenen, es war immer noch nicht vorbei.
Nach einigen Minuten lagen wir mit unseren Gesichtern so nah, dass sich unsere Nasen berührten. Die Sirenen, sein Atem, Rufe von der Straße und plötzlich seine Finger, die meinen Kopf an sich zogen. Zuerst habe ich es gar nicht kapiert, dass seine Zunge in meinen Mund wollte. Mein Herz raste vor Aufregung, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Aber ich ließ einfach alles geschehen. Vorsichtig zogen wir uns gegenseitig aus, streichelten uns überall, ohne dabei ein Wort zu sagen. Seine Zungespitze strich über meine Brust, den Bauch, immer tiefer. Kaum war mein Schwanz in seinem Mund verschwunden, bekam ich den schönsten Orgasmus der Welt. Obwohl ich noch immer überall Schmerzen hatte, war ich glücklich.
In den Jahren danach war ich Tobi nie wieder so nah. Schon am nächsten Tag erzählte er mir von seiner Freundin und ich musste erstmal klar kriegen, dass ich nur einer von vielen war, mit denen er ab und zu nebenbei noch seinen Spaß hatte. Trotzdem war ich jetzt verliebt in ihn, und umso schwieriger war es, dass alles zu akzeptieren. Immer wenn wir uns in den folgenden Jahren trafen, brach wieder etwas in mir auf. Einmal stießen wir nachts beim Cruisen im Park aufeinander. Mitten auf dem Rasen vögelten wir im Viktoriapark, fast nackt und zur Befriedigung anderer Männer, die zaghaft daneben standen und sich einen runterholten. Doch so liebevollen Sex wie in der ersten Nacht hatte ich mit ihm nie mehr.
Nur ein paar Tage später war Tobi aus der Jugend-WG ausgezogen, weil er nun volljährig war. Er hatte sein Abitur gemacht und zog in ein Haus im Wedding. Für mich war das schon ziemlich weit weg, man musste mit der U-Bahn unter Ost-Berlin hindurch und dahinter noch ein paar Stationen weiter. Trotzdem verloren wir uns nicht mehr aus den Augen.

Anfang 1987 lebe ich im besetzten Haus Oranienstraße 44. Als wir eingezogen waren, mussten wir erstmal Bretter von Baustellen besorgen, weil der Eigentümer alle Dielen herausgerissen hatte. Das Haus sollte verkommen, damit er dafür eine Abrissgenehmigung erhält, aber die Besetzung machte seinen Plan zunichte. Weil sehr viel kaputt war, sind nur wenige Leute hier eingezogen. So hatte ich eine 3-Zimmer-Wohnung für mich allein. Mein ganzer Besitz passte auf einen einzigen Handwagen, ein kleines Zimmer hätte also vollkommen gereicht. In den beiden größeren Räumen räumte ich den Schutt zwischen den Bodenbalken raus. Vom Bauwagen einer Malerfirma klaute ich Plastikplanen, aus den Büschen vom Oranienplatz schleppte ich eimerweise Erde in den 4. Stock. Die Zimmer gingen nach Süden und so wuchsen dort bald Kartoffeln und Hanfpflanzen, nicht überwältigend, aber trotzdem schön. Mein Schrebergarten im Abrisshaus wurde eines Tages aber doch geräumt und wieder mal stand ich mit meinem wenigen Zeug auf der Straße. Also ging ich zu Tobi, der ein paar Monate zuvor wieder nach Kreuzberg gezogen war, nur ein paar hundert Meter weiter in die Adalbertstraße. Dort im Haus lebte ich nun also, in einem 1,80 Meter niedrigen Raum, direkt über der Toreinfahrt, mit einem Fenster von der Größe eines Klodeckels.
Die anderen Besetzer waren schon länger mit dem Hauseigentümer in Verhandlung, am Liebsten wollten sie einen Nutzungsvertrag für zwanzig Jahre. Ich war gerade erst 26, zwei Jahrzehnte waren für mich eine unvorstellbar lange Zeit. Vor allem, wenn ich sie mit lauter Studenten verbringen müsste, die dann auch noch Doktoren und Professoren waren oder irgendwelche Praxen hatten. Nein, zwischen mir und den anderen Bewohnern gab es eine Mauer, nur mit Tobi fühlte ich mich verbunden.
Später habe ich erfahren, dass er damals innerlich zerrissen war. Sein Leben war an einem Punkt, an dem eine grundsätzliche Entscheidung anstand. Sollte er auf eine Karriere hinarbeiten oder wollte er doch lieber das leichte Leben, auch wenn das manchmal sehr schwer sein konnte? Sein Einzug in dieses Haus kam schon fast der Entscheidung für künftig sehr geregelte Verhältnisse gleich. Dort hatten die meisten schon keine Zimmer mehr, sondern eine Wohnung, mit Freundin und Kindern.
Dass ich nun mit in dieses Haus zog, war für Tobi eine Erleichterung, seine Hintertür, um vielleicht doch nicht zu verbürgerlichen. Ich war für ihn das andere Leben, das er so schwer abschütteln konnte.
„Ich wäre früher ja froh gewesen, wenn ich ein Leben wie du gehabt hätte.“
Tobi verstand das gar nicht. „Wie kommst du denn darauf?“
„Mein Alter wollte mir imer nur sein eigenes, spießiges Lebens aufzwingen. Schule, Lehre, Beruf, Rente, Kiste. Und zwischendurch einmal im Jahr drei Wochen Urlaub. Das war mir einfach zu eng. Deshalb bin ich ja auch schon so früh abgehauen.“
„Aber du hattest bestimmt ein gutes Zuhause, oder?“
„Gut? Ich weiß nicht. Die Schläge fand ich bestimmt nicht so gut.“
„Hat er dich oft geschlagen?“
„Ne, das nicht, aber immer wieder mal. Schlimmer war der psychische Druck. Ey, ich hatte als Kind, mit elf oder zwölf, Angst, nach Hause zu kommen. Seine Drohungen waren eigentlich das Schlimmste. Man wusste nie, was passiert. Und er hat mit oft gezeigt, dass er mich nicht leiden kann. Seine scheiß Sprüche werde ich nie vergessen.“
Plötzlich spürte ich wieder das Stechen in der Brust, das ich immer dann habe, wenn ich an mein früheres Zuhause denke. An diesen Vater, der mich nicht geliebt hat und an meine Mam, die unglücklich war und Alkoholikerin wurde.
„Hm. Meine Eltern waren dafür nie da. Mal ein Arrangement für einen Monat in London, dann zwei Wochen Konzerte in New York, dann wieder drei Monate München. Und zwischendurch zwei Tage in Berlin. Dann haben sie so getan, als wäre ich ihr großer Liebling. Total verlogen.“
Langsam verstand ich ihn besser. „Und deshalb willste jetzt mehr Sicherheit, oder wie?“
„Ach, ich weiß auch nicht. Die Leute hier im Haus haben wenigstens ein bisschen ’nen Plan von ihrer Zukunft. Die leben nicht so in den Tag rein, wie ich. Oder wie du!“ Dabei lachte er auf, aber etwas gekünstelt. „Eigentlich biste ja ein schlechter Umgang für mich“, grinste er mich an.
„Schlechter Umgang? Scheiße, das ist genau die Sprache von meinem Alten.“
„War nicht so gemeint“. Tobi umarmte mich und für ein paar Sekunden waren wir uns wieder so nah, wie damals in seiner Jugend-WG.

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8 Kommentare

  1. ja, ich bin auch zufrieden. bisher. wunderbar? mmmnnnjjjja – vielleicht, aber dann gibt es ja kaum noch ne Steigerung. Auf DIE hoffe ich allerdings noch. Ich finde es vor allem spannend, weil Du mein Bruder bist und ich so vielleicht noch etwas von Dir erfahre, was ich bisher noch nicht so genau weiß. Vorausgesetzt, das der „Roman“ autobiografisch ist. Ich weiß aber nicht, wie spannend er ist, für Leute, die dich gar nicht kennen. Ich freue mich aber sooderso auf den nächsten Teil.

    Ist es nicht üblich, in einem Roman fiktive Namen zu nehmen? Oder mußt du alle Personen vorher fragen? Muß man auch die Personen fragen, die sozusagen mit den genannten Personen zusammenleben? Interessiert mich, nur mal so. Du weißt das doch sicher…

  2. Autobiografisch ist der Roman nicht, nur in der Grundgeschichte und in einzelnen Szenen. Alle Namen sind aber frei erfunden, die meisten Orte sind jedoch authentisch. Wer an realen Personen in dem Roman vorkommt, wird sich auch erkennen, aber eben nicht am Namen.

  3. Als Deine Mutter gefällt mir der lebendig geschriebenen Artikel sehr gut. Wie schon Kex schrieb ist es für mich auch immer spannend zu erfahren wie Dein früheres leben so ablief von dem ich ja nicht viel wußte. Das ließt sich schon merkwürdig; als Mutter nicht zu wissen wie Dein Leben war. Wir haben uns erst spät in meiner Trockenheit wieder gesehen und seit dem ein für mich wunderbares Verhältnis.
    Ich bin schon auf die nächsten Artikel gespannt, weiter so.

  4. sehr lebendig geschrieben, das finde ich auch, man wird auf jeden Fall zum weiterlesen animiert. Es stecken schon sehr viele Ereignisse und Informationen im 1.Teil, so dass ich auch gespannt bin, was da noch kommt, wenn im einleitenden Teil schon so viel und vielschichtig Geschichte erzäht wird.

    Ich persönlich habe oft etwas Strukturierungsprobleme beim lesen wenn zu viele Jahreszahlen auf relativ kurzem Raum vorkommen, und diese dann auch noch hin und her springen. Aber das kann meine persönliche Macke bzw. mein persönliches Defizit sein.

    Um Rechtschreibfehler zu entdecken und gar zu korrigieren dafür bin ich leider überhaupt nicht die Richtige, wie Du sicher weisst.

    ja, und autobiografisch oder nicht, ein wenig oder auch etwas mehr steckt doch meistens vom Autor/Autorin in seinem Werk.

    Ich bin schon jetzt berührt und freue mich erwartungsfoll darauf zu erfahren wie es weiter geht.

  5. schade, nur 1 1/2 Jahre, dann bin ich erst recht gespannt was da noch alles an Ereignissen, Erlebnissen und Gefühlen rein passt.

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