“Willy wählen”

Montag Abend, 23 Uhr, Taxi­halte am Roten Rathaus. Von den Stufen des Hohen Hauses winkt mich ein jünge­rer Mann heran, geschnie­gelt, trotz der späten Uhrzeit glatt rasiert, Typ “smar­ter Unter­neh­mer”, nicht älter als 25 Jahre. Ob ich denn auch nach Schö­ne­berg fahren würde, möchte er wissen. 18 Jahre vorher hätte ich die Frage ja noch verstan­den, da war es in Mitte sicher schwie­rig, ein Taxi nach West-Berlin zu bekom­men, aber 2007?
Zwar antwor­tete ich mecha­nisch mit “ja natür­lich”, aber in meinem Kopf arbei­tete es kräf­tig, weil ich dachte, dass ich zu blöd bin, den tiefe­ren Sinn der Frage zu verste­hen.

Dann stieg jedoch nicht der junge Mann ein, sondern einer, der durch­aus sein Groß­va­ter sein könnte. Er hatte einen größe­ren Papp­kar­ton dabei, eine Papier­rolle und mehrere Geräte, die ich in der Schnelle nicht erkannt habe. “Zum Rathaus Schö­ne­berg bitte” — na also, das mit der Mauer­öff­nung hatte sich offen­bar doch schon rumge­spro­chen.
Auf der Fahrt vom heuti­gen zum ehema­li­gen Senats­sitz erzählte der Mann von der Veran­stal­tung, die gerade zu Ende gegan­gen war. Es war eine Erin­ne­rung an Willy Brandt, man hat sich Erleb­nisse erzählt, Anek­do­ten, in Erin­ne­rung geschwelgt. Ein Teil der Leute kannte den Ex-Regie­ren­den und Ex-Bundes­kanz­ler persön­lich, so auch mein Fahr­gast. Wir brach­ten sein Gepäck ins Rathaus Schö­ne­berg, weil es dort eine Ausstel­lung zu Brandt gibt. Dann öffnete er den Karton und zog einen metal­le­nen Ansteck­but­ton heraus: “Willy wählen” stand dort weiß auf orange, in einer Schrift, die 1972 ganz modern war. “Damals waren die Buttons aus Plas­tik, heute sind sie halt­ba­rer”. In diesen Worten steckt der Frust des Verlo­re­nen, und die vergeb­li­che Hoff­nung auf Konser­vie­rung. Die SPD ist heute sicher nicht halt­ba­rer als damals, im Gegen­teil. “Die Buttons trugen wir damals alle”, erzählte der Mann noch stolz und ich freute mich für ihn, dass er sich so begeis­tert zurück­er­in­nert. Am Ziel ange­kom­men schenkte er mir einen der Anste­cker.
Dieses tragisch-schöne Erleb­nis ließ mich nicht los und nach Feier­abend recher­chierte ich im Inter­net. Dabei fand ich zahl­rei­che ähnli­che Berichte, teils Repor­ta­gen, teils persön­li­che Erin­ne­run­gen, an die Zeit Anfang der 70er Jahre, als “Willy wählen” tatsäch­lich eine Massen­be­we­gung war. Bei stern.de las ich: “Eine Million “Willy wählen”-Buttons waren im Umlauf, mindes­tens noch einmal so viele Buttons der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Wähler­initia­tive “Bürger für Brandt”. Die Leute trugen sie am Mantel, bepflas­ter­ten ihre Autos und Fahr­rä­der mit Wahl­slo­gans — an Ampeln lach­ten sich wild­fremde Gleich­ge­sinnte an, über­all in Zügen und Stra­ßen­bah­nen, auf der Straße gab es spon­tane Gesprä­che.” 70.000 ehren­amt­li­che Wahl­hel­fer sollen sich damals enga­giert haben, die meis­ten keine SPD-Mitglie­der, sondern von der Person Willy Brandt faszi­niert.
Heute kann man sich das kaum noch vorstel­len, dass ein einzel­ner Poli­ti­ker die Herzen der Menschen derart berührt. Auch in ande­ren Berich­ten wird erzählt, wie sehr ein Teil der Bevöl­ke­rung Brandt verehrte und ihm schließ­lich auch zum Sieg verhalf. Viel­leicht war die Poli­tik damals mensch­li­cher, viel­leicht aber auch nur der Mensch Brandt. “Willy”.
Nach­dem ich das gele­sen hatte, verstand ich meinen Fahr­gast und seine Freunde, dass sie das Andenken an Willy Brandt hoch­hal­ten wollen. Und ich freute mich darüber, dass er mir den Button geschenkt hat.

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