Von der Bedeutung eines Begriffs

Analogrechner RA 770 Telefunken (gebaut 1966–1975)

Die mitun­ter will­kür­li­che Verwen­dung des Wortes „analog“ ist ein gutes Beispiel für die Ausbrei­tung sprach­li­cher Miss­ver­ständ­nisse.

Robert Habeck spricht bei „Maisch­ber­ger“ von „den analo­gen Infra­struk­tu­ren, also Bahnen und Brücken“. Was ist an einer Brücke analog? Im „heute-jour­nal“ wird im Rahmen einer Buch­be­spre­chung ein Gespräch in einem Zugab­teil als „ganz analog und altmo­disch“ beschrie­ben. Gemeint ist ja wohl, dass dieses Gespräch im direk­ten Kontakt statt­fin­det. Der Deutsch­land­funk fragt: „Brau­chen wir ein Recht auf analo­ges Leben?“. Und in der Musik­zeit­schrift Rolling Stone wird ein Konzert von Bob Dylan als „analo­ges Event“ bezeich­net. Ein Kommen­tar zur Rück­kehr in den Präsenz­un­ter­richt nach Corona hat die Über­schrift „Kinder brau­chen die analoge Wirk­lich­keit“. Selbst im Teil „Wissen“ der Wochen­zei­tung Die Zeit, die früher selber durch sprach­kri­ti­sche Beiträge aufge­fal­len ist („Quan­ten­sprung“ und „Urknall“), gibt es jetzt „analoge Tref­fen“ und wird „analog kennen­ge­lernt“.

Alle diese Verwen­dun­gen des Wortes „analog“ basie­ren auf dem Miss­ver­ständ­nis, dass alles, was nicht digi­tal ist, analog sei. Der Gegen­satz zwischen analog und digi­tal gilt aber nur für die Über­tra­gung, Verar­bei­tung oder Spei­che­rung von Daten. Umgangs­sprach­lich hat das Wort „analog“ eine ganz andere Bedeu­tung. Eine Sache oder ein Vorgang können analog, d.h. entspre­chend, ähnlich oder gleich­ar­tig zu einer ande­ren Sache oder zu einem ande­ren Vorgang sein. Analog ist etwas also immer nur in Bezug auf etwas ande­res.

Physi­ka­li­sche Größe

Der tech­ni­sche Begriff analog verweist darauf, dass ein Signal (z.B. ein Geräusch oder eine Licht­in­ten­si­tät) durch eine andere, dem ursprüng­li­chen Signal irgend­wie entspre­chende (also im umgangs­sprach­li­chen Sinne analoge) physi­ka­li­sche Größe reprä­sen­tiert werden kann. Prak­tisch ist das meist die elek­tri­sche Span­nung oder der elek­tri­sche Strom. Alle physi­ka­li­schen Größen außer­halb der Quan­ten­welt können konti­nu­ier­li­che Werte anneh­men. Im Gegen­satz dazu können digi­tale Signale nur diskrete Werte, z.B. 0 und 1, anneh­men.

Musik kann entwe­der analog auf einer Schall­platte gespei­chert werden, wobei das Signal in der Form der Rille gespei­chert wird, oder die vom Mikro­fon erzeugte Wech­sel­span­nung wird digi­ta­li­siert und in einem Binär­code (Loch oder kein Loch in einer dünnen Metall­schicht) auf einer CD gespei­chert.

Die Begriffe analog und digi­tal werden im Bereich der Compu­ter­tech­nik verwen­det, denn auch hier geht es um die Verar­bei­tung und Spei­che­rung von Zahlen und ande­ren Infor­ma­tio­nen durch analoge oder digi­tale Signale. In den Anfän­gen der elek­tro­ni­schen Rechen­tech­nik gab es Analog­com­pu­ter und Digi­tal­com­pu­ter, wobei letz­tere sich später durch­ge­setzt haben. Deshalb wird heut­zu­tage der Einsatz von Compu­tern und die Nutzung des Inter­nets als „Digi­ta­li­sie­rung“ bezeich­net.

Trotz­dem werden auch jetzt wieder Analog­com­pu­ter für spezi­elle Anwen­dun­gen entwi­ckelt und einge­setzt. Spezi­ell für Quan­ten­com­pu­ting sind Analog­rech­ner auf dem Vormarsch und das Berli­ner Startup Anab­rid GmbH ist in Koope­ra­tion mit dem Deut­schen Zentrum für Luft- und Raum­fahrt ganz wesent­lich an dieser Entwick­lung betei­ligt.

Digi­tale Vorläu­fer der elek­tro­ni­schen Daten­ver­ar­bei­tung sind zum Beispiel auf Zahn­rä­dern basie­rende mecha­ni­sche Rechen­ma­schi­nen und Regis­trier­kas­sen, die bis in die Sieb­zi­ger­jahre benutzt wurden. Die primi­tivste Form dieser mecha­ni­schen Rechen­ma­schi­nen ist der seit der Antike bekannte Abakus, bei dem z.B. Holz­per­len auf Dräh­ten hin- und herge­scho­ben werden, um einfa­che Rech­nun­gen durch­zu­füh­ren. Die Zähne des Zahn­ra­des und die Holz­per­len sind abzähl­bar wie die Finger (latei­nisch digi­tus) und damit Elemente einer digi­ta­len Tech­nik. Digi­tale Tech­ni­ken sind also viel älter als das Wort digi­tal und sind auch nicht in jedem Fall besser als analoge Tech­ni­ken. Das analoge Tele­fon zur Sprach­über­tra­gung war deut­lich komfor­ta­bler als die Tele­gra­fie, die mit den drei Zeichen des Morse­al­pha­bets (kurz, lang, Pause), also digi­tal, Nach­rich­ten über­mit­teln konnte.

Mit dem „Recht auf ein analo­ges Leben“ ist bestimmt nicht gemeint, dass das analoge Fern­se­hen wieder einge­führt wird und die Lang­spiel­platte die CD erset­zen soll, denn auch diese analo­gen Tech­ni­ken erzeu­gen nur über­mit­telte Reali­tät und sind nicht die Reali­tät selber.

In allen oben genann­ten Beispie­len für die miss­ver­ständ­li­che Verwen­dung des Wortes „analog“ meinen die Autoren, dass etwas in der Reali­tät geschieht und nicht in der virtu­el­len Welt der Daten, dass Konzerte etwas ande­res sind als Musik aus einer analo­gen oder digi­ta­len Konserve und dass Kinder auch den realen Kontakt zu körper­lich anwe­sen­den Lehrern haben soll­ten. Das Gegen­teil zu dieser virtu­el­len Welt der Daten ist aber nicht „analog“, sondern die Wirk­lich­keit. Das „echte Leben“ ist weder analog noch digi­tal, es ist real.

Atoma­rer Quan­ten­sprung

Die neue Bedeu­tung des Wortes analog hat aber bereits eine quasi offi­zi­elle Bestä­ti­gung erfah­ren. Die Inter­net­seite Wiktio­nary stellt neben die beiden seit langem bekann­ten Bedeu­tun­gen auch die neue Vari­ante: „umgangs­sprach­lich: physisch (ding­lich) vorhan­den statt virtu­ell oder elek­tro­nisch darge­stellt“. Der Duden, wohl etwas konser­va­ti­ver, hat diese neue Bedeu­tung noch nicht aufge­nom­men.

Schwie­rig wird die Anwen­dung dieser neuen Bedeu­tung, wenn analog verar­bei­tete oder gespei­cherte Daten ins Spiel kommen. Ein analog aufge­nom­me­nes Foto ist nicht „physi­scher“ als ein digi­tal aufge­nom­me­nes und dann ausge­druck­tes Foto. In diesem Fall wider­spre­chen sich die fach­li­che und die neue umgangs­sprach­li­che Bedeu­tung von „analog“ und können zu eini­ger Konfu­sion beitra­gen.

Trotz­dem ist die neue Bedeu­tung von „analog“ vermut­lich nicht mehr aufzu­hal­ten und reiht sich ein in die Reihe der Worte, die durch Unkennt­nis eine Bedeu­tung erlangt haben, die der ursprüng­li­chen Bedeu­tung wider­spricht. Vor 30 Jahren wurde aus dem einzeln nicht wahr­nehm­ba­ren atoma­ren Quan­ten­sprung plötz­lich ein großes Ereig­nis und die Meteo­ro­lo­gie heißt immer noch so, obwohl heute jeder weiß, dass unser Wetter nicht durch Meteore bestimmt wird.

Mathias Senoner

Mathias Senoner war nach dem Studium der Physik und Promo­tion an der Humboldt-Univer­si­tät zu Berlin viele Jahre als Wissen­schaft­ler an der Humboldt-Univer­si­tät und der Bundes­an­stalt für Mate­ri­al­for­schung und ‑prüfung tätig.

Foto: Tomasz Sieni­cki

Wiki­me­dia Commons, CC BY 3.0

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

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