
Die mitunter willkürliche Verwendung des Wortes „analog“ ist ein gutes Beispiel für die Ausbreitung sprachlicher Missverständnisse.
Robert Habeck spricht bei „Maischberger“ von „den analogen Infrastrukturen, also Bahnen und Brücken“. Was ist an einer Brücke analog? Im „heute-journal“ wird im Rahmen einer Buchbesprechung ein Gespräch in einem Zugabteil als „ganz analog und altmodisch“ beschrieben. Gemeint ist ja wohl, dass dieses Gespräch im direkten Kontakt stattfindet. Der Deutschlandfunk fragt: „Brauchen wir ein Recht auf analoges Leben?“. Und in der Musikzeitschrift Rolling Stone wird ein Konzert von Bob Dylan als „analoges Event“ bezeichnet. Ein Kommentar zur Rückkehr in den Präsenzunterricht nach Corona hat die Überschrift „Kinder brauchen die analoge Wirklichkeit“. Selbst im Teil „Wissen“ der Wochenzeitung Die Zeit, die früher selber durch sprachkritische Beiträge aufgefallen ist („Quantensprung“ und „Urknall“), gibt es jetzt „analoge Treffen“ und wird „analog kennengelernt“.
Alle diese Verwendungen des Wortes „analog“ basieren auf dem Missverständnis, dass alles, was nicht digital ist, analog sei. Der Gegensatz zwischen analog und digital gilt aber nur für die Übertragung, Verarbeitung oder Speicherung von Daten. Umgangssprachlich hat das Wort „analog“ eine ganz andere Bedeutung. Eine Sache oder ein Vorgang können analog, d.h. entsprechend, ähnlich oder gleichartig zu einer anderen Sache oder zu einem anderen Vorgang sein. Analog ist etwas also immer nur in Bezug auf etwas anderes.
Physikalische Größe
Der technische Begriff analog verweist darauf, dass ein Signal (z.B. ein Geräusch oder eine Lichtintensität) durch eine andere, dem ursprünglichen Signal irgendwie entsprechende (also im umgangssprachlichen Sinne analoge) physikalische Größe repräsentiert werden kann. Praktisch ist das meist die elektrische Spannung oder der elektrische Strom. Alle physikalischen Größen außerhalb der Quantenwelt können kontinuierliche Werte annehmen. Im Gegensatz dazu können digitale Signale nur diskrete Werte, z.B. 0 und 1, annehmen.
Musik kann entweder analog auf einer Schallplatte gespeichert werden, wobei das Signal in der Form der Rille gespeichert wird, oder die vom Mikrofon erzeugte Wechselspannung wird digitalisiert und in einem Binärcode (Loch oder kein Loch in einer dünnen Metallschicht) auf einer CD gespeichert.
Die Begriffe analog und digital werden im Bereich der Computertechnik verwendet, denn auch hier geht es um die Verarbeitung und Speicherung von Zahlen und anderen Informationen durch analoge oder digitale Signale. In den Anfängen der elektronischen Rechentechnik gab es Analogcomputer und Digitalcomputer, wobei letztere sich später durchgesetzt haben. Deshalb wird heutzutage der Einsatz von Computern und die Nutzung des Internets als „Digitalisierung“ bezeichnet.
Trotzdem werden auch jetzt wieder Analogcomputer für spezielle Anwendungen entwickelt und eingesetzt. Speziell für Quantencomputing sind Analogrechner auf dem Vormarsch und das Berliner Startup Anabrid GmbH ist in Kooperation mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt ganz wesentlich an dieser Entwicklung beteiligt.
Digitale Vorläufer der elektronischen Datenverarbeitung sind zum Beispiel auf Zahnrädern basierende mechanische Rechenmaschinen und Registrierkassen, die bis in die Siebzigerjahre benutzt wurden. Die primitivste Form dieser mechanischen Rechenmaschinen ist der seit der Antike bekannte Abakus, bei dem z.B. Holzperlen auf Drähten hin- und hergeschoben werden, um einfache Rechnungen durchzuführen. Die Zähne des Zahnrades und die Holzperlen sind abzählbar wie die Finger (lateinisch digitus) und damit Elemente einer digitalen Technik. Digitale Techniken sind also viel älter als das Wort digital und sind auch nicht in jedem Fall besser als analoge Techniken. Das analoge Telefon zur Sprachübertragung war deutlich komfortabler als die Telegrafie, die mit den drei Zeichen des Morsealphabets (kurz, lang, Pause), also digital, Nachrichten übermitteln konnte.
Mit dem „Recht auf ein analoges Leben“ ist bestimmt nicht gemeint, dass das analoge Fernsehen wieder eingeführt wird und die Langspielplatte die CD ersetzen soll, denn auch diese analogen Techniken erzeugen nur übermittelte Realität und sind nicht die Realität selber.
In allen oben genannten Beispielen für die missverständliche Verwendung des Wortes „analog“ meinen die Autoren, dass etwas in der Realität geschieht und nicht in der virtuellen Welt der Daten, dass Konzerte etwas anderes sind als Musik aus einer analogen oder digitalen Konserve und dass Kinder auch den realen Kontakt zu körperlich anwesenden Lehrern haben sollten. Das Gegenteil zu dieser virtuellen Welt der Daten ist aber nicht „analog“, sondern die Wirklichkeit. Das „echte Leben“ ist weder analog noch digital, es ist real.
Atomarer Quantensprung
Die neue Bedeutung des Wortes analog hat aber bereits eine quasi offizielle Bestätigung erfahren. Die Internetseite Wiktionary stellt neben die beiden seit langem bekannten Bedeutungen auch die neue Variante: „umgangssprachlich: physisch (dinglich) vorhanden statt virtuell oder elektronisch dargestellt“. Der Duden, wohl etwas konservativer, hat diese neue Bedeutung noch nicht aufgenommen.
Schwierig wird die Anwendung dieser neuen Bedeutung, wenn analog verarbeitete oder gespeicherte Daten ins Spiel kommen. Ein analog aufgenommenes Foto ist nicht „physischer“ als ein digital aufgenommenes und dann ausgedrucktes Foto. In diesem Fall widersprechen sich die fachliche und die neue umgangssprachliche Bedeutung von „analog“ und können zu einiger Konfusion beitragen.
Trotzdem ist die neue Bedeutung von „analog“ vermutlich nicht mehr aufzuhalten und reiht sich ein in die Reihe der Worte, die durch Unkenntnis eine Bedeutung erlangt haben, die der ursprünglichen Bedeutung widerspricht. Vor 30 Jahren wurde aus dem einzeln nicht wahrnehmbaren atomaren Quantensprung plötzlich ein großes Ereignis und die Meteorologie heißt immer noch so, obwohl heute jeder weiß, dass unser Wetter nicht durch Meteore bestimmt wird.
Mathias Senoner
Mathias Senoner war nach dem Studium der Physik und Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin viele Jahre als Wissenschaftler an der Humboldt-Universität und der Bundesanstalt für Materialforschung und ‑prüfung tätig.
Foto: Tomasz Sienicki
Wikimedia Commons, CC BY 3.0
[ Dieser Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]
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