Das Krenz-Dilemma

Mit einer ande­ren Prio­ri­tä­ten­set­zung hätte der Ex-Staats­rats­vor­sit­zende den Tod des letz­ten Mauer­to­ten Guef­froy verhin­dern können

Am 26. Mai 2025 sprach Holger Fried­rich, Verle­ger der Berli­ner Zeitung, öffent­lich mit Egon Krenz, dem ehema­li­gen Staats­rats­vor­sit­zen­den der DDR und Urhe­ber des Begrif­fes „Wende“. Anlass war die Vorstel­lung des drit­ten und letz­ten Bandes der Krenz’schen Memoi­ren. Schon die erste Frage zielte auf einen wunden Punkt, den sinn­lo­sen Tod des letz­ten Mauer­op­fers Chris Guef­froy stell­ver­tre­tend für alle Toten an der scharf bewach­ten deutsch-deut­schen Grenze.

Egon Krenz als seiner­zeit Verant­wort­li­cher für Sicher­heit, schien auf diese Frage vorbe­rei­tet zu sein und antwor­tete durch­aus offen und zuge­wandt, indem er das Dilemma schil­derte zwischen der Einma­lig­keit und Schutz­würde jedes mensch­li­chen Lebens einer­seits und der welt­po­li­ti­schen Notwen­dig­keit des Schut­zes der Staats­grenze der DDR als System­grenze ande­rer­seits. Krenz schloss seine Über­le­gun­gen mit der Bemer­kung: „Ich weiß bis heute nicht, wie wir es hätten anders machen können.“ Eine Antwort auf diese Frage soll hier versucht werden.

Es sei voraus­ge­setzt, dass die herme­ti­sche Grenze zwischen Deutsch­land-Ost und ‑West ihre Ursa­chen in den expan­si­ven und verbre­che­ri­schen deut­schen Krie­gen des 20. Jahr­hun­derts hatte und somit kein Unrecht war, das dem deut­schen Volk wider­fuhr, sondern eine histo­ri­sche Konse­quenz aus den mili­tä­ri­schen und mora­li­schen Nieder­la­gen von Kaiser- und Hitler­reich. Es sei nicht voraus­ge­setzt, dass diese Grenze notwen­dig für die Erhal­tung des Frie­dens in Europa war und schon gar nicht, dass es sich um einen „anti­fa­schis­ti­schen Schutz­wall“ gehan­delt hätte, wie es der Wort­wahl der DDR-Propa­ganda entsprach.

Grenzgesetz der DDR

Um die eingangs gestellte Frage, was anders hätte gemacht werden können, ehrlich und vorur­teils­frei zu beant­wor­ten, ist aller­dings ein Perspek­tiv­wech­sel nötig. Es soll daher versuchs­weise ange­nom­men werden, dass der zuver­läs­sige Schutz der Staats­grenze Recht und Bünd­nis­pflicht der DDR-Regie­rung war. Waren aus dieser Sicht Menschen­op­fer notwen­dig und unver­meid­bar? – Nein!

Der im Westen als „Schieß­be­fehl“ bekannte Auftrag zur Grenz­si­che­rung lautete in etwa so: Es wird befoh­len „… Grenz­durch­brü­che zu verhin­dern und Grenz­ver­let­zer fest­zu­neh­men“. Der zuvor verwen­dete Zusatz „… oder zu vernich­ten“, der am ehes­ten als Tötungs­auf­trag zu verste­hen war, wurde in den Jahren 1986 und 1987 im Hinblick auf die bevor­ste­hende 750-Jahr-Feier in Berlin nicht mehr verwen­det, jeden­falls nicht im Erfah­rungs­be­reich des Autors dieser Zeilen.

Die im Grenz­ge­setz der DDR fest­ge­hal­tene Schuss­waf­fen­ge­brauchs­ord­nung stellte sich in den münd­li­chen Schu­lun­gen zum Grenz­dienst wie folgt dar: Bei der Fest­stel­lung von Perso­nen im Grenz­strei­fen oder bei Auslö­sung des Grenz­si­gnal­zauns waren den zumeist paar­weise einge­setz­ten Posten befoh­len, vom Grenz­turm abzu­sit­zen, die grenz­ver­let­zen­den Perso­nen mit den Worten „Halt, Grenz­trup­pen, stehen­blei­ben!“ anzu­spre­chen, bei Nicht­be­fol­gung mit „Halt, Grenz­trup­pen, stehen­blei­ben oder ich schieße!“ den Einsatz der Schuss­waffe anzu­kün­di­gen, im nächs­ten Schritt einen Warn­schuss abzu­ge­ben und – wenn auch das nicht zur Fest­nahme der Perso­nen ausreichte – gezielt zu schie­ßen. Der Schieß­be­fehl war somit in seinem Aufbau so konzi­piert, dass er der flucht­wil­li­gen Person drei­mal die Möglich­keit gab, die Flucht abzu­bre­chen und damit das eigene Leben zu retten.

Aus büro­kra­ti­scher Sicht muss man also Egon Krenz zubil­li­gen, dass der Befehl zur Grenz­si­che­rung impli­zit auch auf die Schutz­würde mensch­li­chen Lebens abge­stellt war. Betrach­tet man die Vorgänge aus psycho­lo­gi­scher Sicht – und das taten die Verfas­ser des Grenz­ge­set­zes und der damit verbun­de­nen Befehle zwei­fel­los – tun sich erheb­li­che Lücken auf, die an der Prio­ri­tät des Schut­zes von Leib und Leben zwei­feln lassen.

Zum einen war ausnahms­los mit einem erheb­li­chen Stress­fak­tor aufsei­ten der grenz­ver­let­zen­den Perso­nen zu rech­nen, woll­ten diese doch unbe­dingt in den Westen und hatten dafür erheb­li­che Risi­ken auf sich genom­men. So war ein „Alles oder Nichts“, ein unbe­ding­tes Weiter­lau­fen trotz Anspra­che und Gewalt­an­dro­hung, folge­rich­tig und mensch­lich.

Aber auch aufsei­ten der Grenz­sol­da­ten kam es zu erheb­li­chem Stress, dem die zumeist sehr jungen und mangel­haft ausge­bil­de­ten Rekru­ten regel­mä­ßig nicht gewach­sen waren. Zudem schwebte das Damo­kles­schwert einer mili­tär­recht­li­chen Verur­tei­lung und Straf­ver­bü­ßung im berüch­tig­ten Mili­tär­ge­fäng­nis Schwedt über den Köpfen der Solda­ten, und mancher malte sich Schlim­mes für sich aus, sollte in seinem Grenz­dienst ein Flucht­ver­such gelin­gen. „Der oder ich!“ war die mentale und biswei­len letale Folge dieser gefühl­ten oder realen Bedro­hung.

An der ausnahms­lo­sen Praxis der Belo­bi­gung von an Verei­te­lun­gen von Grenz­durch­brü­chen betei­lig­ten Solda­ten durch die Komman­deure der Grenz­re­gi­men­ter, egal auf welche Weise diese Verhin­de­run­gen gesche­hen waren, lässt sich able­sen, dass der Schutz mensch­li­chen Lebens bei der Siche­rung der Staats­grenze eine zumin­dest nach­ran­gige Rolle spielte. Andern­falls hätten Verstöße gegen den vorge­schrie­be­nen Ablauf der Verhin­de­rung des Grenz­durch­bruchs auch dann geahn­det werden müssen, wenn die Verhin­de­rung im Ergeb­nis erfolg­reich war. „Erst schie­ßen, dann fragen!“ wurde belohnt.

Erschwe­rend kommt hinzu, dass die zur Grenz­si­che­rung abkom­man­dier­ten Solda­ten mit Kriegs­waf­fen vom Typ AK-74 und 60 Schuss schar­fer Muni­tion in den Grenz­strei­fen geschickt wurden. Eine Grenz­si­che­rung in Frie­dens­zei­ten ist jedoch niemals eine Kriegs­hand­lung. Wie in den Mauer­schüt­zen­pro­zes­sen der Neun­zi­ger­jahre fest­ge­stellt, war es für die Befehls­ha­ber des Grenz­re­gimes abso­lut prio­ri­tär, dass die Grenze undurch­läs­sig blieb, egal, um welchen Preis. Diese Prio­ri­tä­ten­set­zung hätte Egon Krenz ändern können und müssen, und zwar nicht erst nach dem Tode Chris Guef­froys, sondern sofort nach Über­nahme der Verant­wort­lich­keit für diesen Bereich der Staats­füh­rung.

Was hätte er also konkret anders machen können?

  • Das Grenz­ge­setz und die Schuss­waf­fen­ge­brauchs­be­stim­mung durch­set­zen.
  • Die Ausrüs­tung der Gren­zer durch poli­zei­li­che statt krie­ge­ri­sche Einsatz­mit­tel erset­zen wie z.B. Schlag­waf­fen, Schreck­schuss­waf­fen oder klein­ka­li­brige Schuss­waf­fen.
  • Die Schu­lung der Rekru­ten auf den Schutz des eige­nen Lebens und des Lebens der Grenz­flüch­ti­gen fokus­sie­ren.

Bei solcher Vorge­hens­weise wären zwar gewiss deut­lich mehr Grenz­durch­brü­che gelun­gen, aber es wären auch etli­che Menschen­le­ben geret­tet worden. Das hätte die huma­nis­ti­sche Grund­ein­stel­lung der DDR-Staats­füh­rung erheb­lich besser beglau­bigt, als die symbo­li­schen Unter­zeich­nun­gen inter­na­tio­na­ler Menschen­rechts­ver­ein­ba­run­gen.

Individuelles Risiko

Dem Einwand, dass die Grenze dadurch eine nicht mehr ernst­zu­neh­mende Barriere gewor­den wäre, ist entge­gen­zu­hal­ten, dass aufgrund der empfind­li­chen Haft­stra­fen für Grenz­ver­let­zer auch dann noch jeder Flucht­ver­such mit einem hohen indi­vi­du­el­len Risiko verbun­den gewe­sen wäre. Krenz zeigt sich im Kontext seiner Memoi­ren wieder häufi­ger in der Öffent­lich­keit und präsen­tiert sich als Mann mit Idea­len und Prin­zi­pien.

„Nie wieder Krieg!“, ist sein Mantra und Vermächt­nis und das ist durch­aus wert­voll und glaub­haft. Es wäre sicher falsch, davon auszu­ge­hen, dass er seine Schuld an den Mauer­to­ten, seinen blin­den Fleck der Geschichts­be­trach­tung, aus niede­ren Beweg­grün­den leug­net. Ein „Ich weiß bis heute nicht, wie wir es hätten anders machen können“ ist sicher keine Lüge. Verdrän­gung funk­tio­niert anders. Vermut­lich leitet er unbe­wusst die offen­sicht­li­che Antwort auf seine Frage, die er sich längst hätte selber geben können, an seiner Intel­li­genz, Moral und Empa­thie vorbei ins Nichts.

Holger Fried­richs Frage nach der Krenz’schen Wahr­neh­mung des letz­ten Mauer­to­ten Chris Guef­froy war sehr genau gestellt: „Was dach­test du damals und wie denkst du heute darüber?“ Das fasst einen Zeit­raum von 35 Jahren und impli­ziert die Möglich­keit persön­li­cher Entwick­lung und später Reifung. Auf diese Diffe­ren­zie­rung ging Egon Krenz gar nicht ein. Als hätte er die Frage nicht gehört.

Michael Günther, Jahr­gang 1966, ist Schau­spie­ler und Vorstands­mit­glied der Shake­speare Company Berlin. Als Neun­zehn­jäh­ri­ger hatte er das unver­schul­dete Pech, zum Wehr­dienst an der Grenze der DDR zu West-Berlin einge­zo­gen zu werden, und das unver­diente Glück, dass er niemals in die Situa­tion kam, über Schie­ßen oder Nicht-Schie­ßen entschei­den zu müssen.

Foto 1: Presse03
Foto 2: Bundes­ar­chiv, Bild 183‑1989-1018–037

Wiki­me­dia Commons, CC BY-SA 3.0

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

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