Mit dem Gesicht zum Volke

Ich saß in einem weiten Saal, ein bisschen eingezwängt.
Zu viele Menschen hatten sich noch durch die Tür gedrängt.
Das Podium, vorn, noch menschenleer, von Neonlicht erhellt –
mit Tischen, Stühlen und mit Mikrofonen vollgestellt.
Und ohne Zeremonienkram, vom Beifall kurz begrüßt,
betrat nun der Regierungsstab das Podiumsgerüst.

Der erste Mann des Staates sprach, das Mikro in der Hand.
Er sei auf alle Fragen aus dem Volke nun gespannt.
Gleich flogen ein paar Arme hoch. Die sprachen, standen auf.
Was auch die Leute fragten – vorn gab’s eine Antwort drauf.

Dann sprach eine Ministerin und mal ein Kommandant.
Die Antwort gab stets einer, der das Sachgebiet verstand.
Nur ich verstand nicht allzuviel, mir reichte, was ich sah.
Ich träumte nicht, ich saß dabei – in Nicaragua!
Und die Versammlung hieß:
Mit dem Gesicht zum Volke, mit dem Gesicht zum Volke,
mit dem Gesicht zum Volke – nicht mit den Füßen in ’ner Wolke, nein!
Mit dem Gesicht zum Volke, mit dem Gesicht zum Volke,
mit dem Gesicht zum Volke – ja!

Hier las kein Mensch vom Zettel ab, hier sprach man alles aus.
Oft gab es Zwischenrufe und Gelächter und Applaus.
Das findet immer wieder statt, und jeder darf da rein.
Und keine Frage ist zu heiß und kein Problem zu klein.

Ach, kleines Nicaragua – so stolz und so bedroht,
noch brauchst du fremde Hilfe, sonst wär‘ bald eine Hoffnung tot.
Doch, gib du nicht nur Wolle, Fleisch, Kaffee und Silber fort,
nimm auch noch etwas anderes mit auf in den Export:
Ich meine: Mit dem Gesicht zum Volke…
(Lied von Gerhard Schöne)

Am 19. Juli 1979 geschah in der Mitte Amerikas etwas Ungeheuerliches, etwas, das die Armen in der ganzen Welt aufhorchen und Hoffnung schöpfen ließ: In Nicaragua wurde der Diktatur Anastasio Somoza aus dem Amt gejagt und die Befreiungsfront der Sandinisten (FSLN) übernahm im Land die Macht. Doch anders als bei anderen Revolutionen bauten sie keine neue Diktatur auf, sondern sorgten wirklich dafür, dass das Volk mitbestimmen konnte. Überall wurde das Land an die Bauern übergeben, Zehntausende von Menschen lernten jetzt lesen und schreiben, Schulen und ein soziales Gesundheitssystem wurden errichtet. Während die Menschen in den Jahrzehnten vorher dumm gehalten werden sollten, bauten die Sandinisten darauf, ihnen politisches Denken und das Eintreten für die eigenen Interessen beizubringen. Es entstand eine Demokratie, Kunst und Kultur bekamen eine herausragende Stellung, der weltbekannte Dichter und Priester Ernesto Cardenal wurde zum Kulturminister ernannt. Frauen erhielten die gleichen Rechte wie Männer, was damals eine Sensation war.

Die USA unter Ronald Reagan aber sahen das sandinistische Nicaragua als kommunistische Bedrohung an, dabei war es weder kommunistisch, noch eine Bedrohung. Reagan attackierte das Land, ließ den einzigen Pazifikhafen verminen und bewaffnete die Anhänger des einstigen Diktators als „Contras“. In hunderten terroristischen Anschlägen wurden viele Wirtschaftsbetriebe zerstört, die Ernten verbrannt, Massaker in der Bevölkerung sollten die Angst schüren.
Fünf Jahre nach der Revolution wurden die Sandinisten in einer freien Wahl bestätigt. Aus der ganzen Welt reisten sogenannte „Internationale Brigaden“ an, um das Land zu unterstützen. Sie halfen bei der Arbeit auf dem Feld, beim Aufbau von Fabriken und bei der Alphabetisierung. Ein paar deutsche Hippies wurden in der Hauptstadt Managua sogar zu Polizisten.

Etwa 30.000 Menschen kamen durch den Krieg der Contras gegen das eigene Volk ums Leben. 1990 gewann das Bündnis der Antisandinisten (zu dem auch die Contras gehörten) die Wahl mit dem Versprechen, für das Ende des Terrors zu sorgen. 55 Prozent der Bevölkerung wählte diesen bitteren Frieden. Seitdem ging es wieder bergab. Heute herrscht in Nicaragua eine Arbeitslosigkeit von 80%, das Gesundheitswesen ist privatisiert, Analphabetenrate und Kindersterblichkeit steigen, die Lebenserwartung sinkt.
Die FSLN wurde zu einer Partei, Daniel Ortega, einst Revolutionsführer, ist bis heute ihr Chef. Bei der letzten Wahl wurde er mit 38 Prozent wiedergewählt. Es gibt seit Jahren Korruptionsvorwürfe gegen ihn, trotzdem hat er damit begonnen, einige Errungenschaften der Revolution wieder einzuführen. Gesundheitsvorsorge und Bildung sind wieder kostenlos, sämtliche Schulkinder bekommen täglich eine unentgeltliche Mahlzeit.

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3 Kommentare

  1. „Mit dem Gesicht zum Volke“.
    So etwas wäre hier in Deutschland undenkbar. Davor hätten die Politiker doch viel zu viel Angst.

  2. Moin Aro, dein Posting hier hat dazu geführt, dass ich Gerhard Schöne für mich „wieder“-entdeckt habe – ich kannte bis dahin nur seine Kinderlieder, aus Kindergartenzeiten.

    Vielen Dank dafür.

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