Touristenschrecks

Checkpoint Charlie, die nachgebaute Hütte in der Straßenmitte ist ein Touristenmagnet. Ständig lassen sich Berlin-Besucher davor fotografieren, wohl nicht ahnend, dass sie einer Fiktion aufsitzen, einem Nachbau aus den 90er Jahren. So auch vier englischsprachige Touristen.
Kurz nach Mitternacht kommt ein Radfahrer. Etwa 50 Jahre alt, dick, Glatze, schmutzig, sein Lenkrad vollgehängt mit alten Plastiktüten, offenbar ein mobiler Stadtstreicher. Er stellt sich vor die Baracke, quer ins Bild. Provokativ lässt er sich mit fotografieren, es gibt keine Chance ihm zu entgehen. Dabei grinst er hämisch und breit und nuschelt die ganze Zeit über unverständliche Worte. Die Touristen sind völlig desorientiert und hilflos, offenbar überlegen sie, ihn mit Gewalt zur Seite zu schieben, aber dann geben sie auf. Der Mann kommt also mit aufs Bild und Zuhause werden die Besucher dafür eine Story zu erzählen haben. Auch einige Minuten nachdem sie weg sind, steht der alte Mann noch triumphierend da, präsentiert sein Fahrrad und freut sich.

Eine halbe Stunde später: Ein Junge, 16 bis 18 Jahre, extrem dünn, dunkel, vielleicht Pakistani, sitzt vor der Baracke. Wieder kommen Touristen, wollen das Haus und auch ihn fotografieren. Er springt auf, rennt auf sie zu, schreit etwas in einer mir unverständlichen Sprache. Sie bekommen Panik, obwohl er einen Meter Abstand hält. Der Fotoapparat sinkt, unvermittelt dreht er sich um und trottet zurück, setzt sich wieder hin. Das Touri-Pärchen berät, was zu tun ist, denn sie wollen natürlich ein Foto von der Baracke machen. Schließlich gehen sie in großem Bogen um ihn herum und fotografieren das Haus von der anderen Seite. Der Junge merkt das, steht wieder auf, bleibt diesmal aber ganz friedlich. Er schaut an der Baracke vorbei, direkt zu den ängstlichen Touristen, die ihn nun unweigerlich mit aufs Bild bekommen. Plötzlich lacht er, schüttet sich fast aus, 2, 3 Minuten lang, bis er sich völlig fertig wieder hinsetzt.

Ein paar Minuten später steht er auf, tanzt mitten auf der Straße, singt und ist fröhlich. Als drei Passanten ankommen und stehen bleiben, um ihm zuzusehen, verneigt er sich vor ihnen. Freundlich geht er auf sie zu, fragt sie irgendetwas und fängt plötzlich wieder an zu brüllen: „Schweden, Schweden, Schweden!“ äfft er herum. Die Passanten weichen zurück, er schreit wieder los, sie verdrücken sich. Auch ich beende das Schauspiel für mich und fahre weiter.

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