Vom Arkona- zum Vinetaplatz

Der U‑Bahnhof Bernauer Straße liegt noch in Mitte. Der östli­che Ausgang führt gerade auf die Grenze. Fast drei Jahr­zehnte war der Bahn­hof geschlos­sen, man sieht es ihm nicht mehr an.
Ich bin nicht gekom­men, um mich zu erin­nern. Die SED hat das prole­ta­ri­sche Berlin zerschla­gen, sagt Heiner Müller. Aber sie hat es durch Nichts­tun auch erhal­ten. In Mitte findet man die Quar­tiere noch, die bis in die späten 70er, frühen 80er Jahre auch für Wedding charak­te­ris­tisch waren.
Der Wedding von heute ist dage­gen ein Stadt­teil aus der alten Bundes­re­pu­blik, ein Nach­kriegs­wohn­ort. Die Geschichte liegt zwar noch ziem­lich weit oben, nur eine dünnne Schicht Verges­sen darüber, aber die meis­ten Weddin­ger kennen sie nicht mehr. Wedding zeigt uns, was die Leis­tun­gen der alten BRD waren, die ein Sozi­al­staat war, wie es sonst kaum einen auf der Welt gab und in der deut­schen Geschichte schon gar nicht.

Aus der Bernauer Straße biege ich rechts in die Ruppi­ner Straße ein, über­quere die breite Schneise aus Stadt­wüste, die die Mauer zurück­ge­las­sen hat. Auf einer Balkon­log­gia stehen zwei Alte und blicken von der West­seite herüber, als träum­ten sie einer Vergan­gen­heit nach, in der das hier End- und Grenz­land war. Walter Ulbricht baute die Mauer. Er allein? Hatte er nicht mindes­tens einen Maurer bei sich? Vor allem hatte er Zuschauer.
“Privat­grund­stück” steht jetzt auf weißem Blech­schild; aber dieser Priva­tier ist der Staat, der hier durch das Bundes­ver­mö­gens­amt so tut als ob. 40 Jahre haben sich die deut­schen Staa­ten hier so staat­lich benom­men wie es staat­li­cher gar nicht geht, nun wollen sie Privat­leute sein, als ob nichts gewe­sen wäre. Darüber errei­che ich den Arko­na­platz. Ich weiß nicht, warum die Gegend meck­len­bur­gisch-vorpom­mersch, rügen­haft benannt ist.
Die Bernauer selbst soll ihren Namen aus reli­gi­ons­ge­schicht­li­chen Grün­den haben. Das Ereig­nis, nach dem sie angeb­lich benannt ist, lag bei der Namens­ge­bung 1862 schon 430 Jahre zurück; auch damals wird kaum ein Einwoh­ner gewusst haben, wer die Hussi­ten waren, gegen die sich die Bernauer vertei­dig­ten, uns warum sie sich über­haupt vertei­digt haben, statt der Geschichte ihren Lauf zu lassen.

Der Arko­na­platz sieht seit den frühen 80er Jahren so aus wie heute. Seine bewegte Geschichte rufe ich nicht herauf, weil ich seine ruhige Schön­heit genie­ßen möchte. Südlich sehe ich die Zions­kir­che und den Zions­kirch­platz, von dort über den Arko­na­platz und den Vineta­platz erstreckt sich bezirks­über­grei­fend bis zur Lortzing­straße eine eindrück­lich schöne Stadt­an­lage mit Stadt­platz, Wohn­platz, Stadt­park. Jetzt im Winter-Weiß tritt ihre umfas­sende Form deut­li­cher hervor als im Sommer-Grün.
Am Eingang zur Swine­mün­der Straße stehen zwei Plata­nen, seit wann wohl? Sie wirken verletz­lich, aber die Seele dieser Bäume ist fest­ge­fügt, was haben sie hier schon gese­hen?
Jenseits der Bernauer Straße öffnet sich die Swine­mün­der Straße in den Wedding, als wollte sie eine Avenue werden. Den südli­chen Häuser­block, der ziem­lich frisch gestri­chen ist, kann man — geschicht­lich betrach­tet — viel­leicht fast schon einen Altbau nennen, während die Back­stein­häu­ser am rech­ten Stra­ßen­an­fang wohl eine Wohn­an­lage genannt werden. Der Archi­tekt hat dem Haus die Ecke abge­schnit­ten und negiert sie durch eine Art hoher Türöff­nung, durch die sanft ein aufstei­gen­der Pflas­ter­weg in den Hof führt.

Weddin­ger Höfe von heute würdigt nur der rich­tig, der die Höfe der frühen Miets­ka­ser­nen kannte. Ein archi­tek­to­ni­sches Problem lag hier viel­leicht vor, ein sozia­les und poli­ti­sches aber bestimmt. Wenn nicht beide Arten von Proble­men gleich­zei­tig lösbar sind, gilt Vorrang für die letz­te­ren.
Der Vineta­platz, auf den ich nun gelange, ist eher ein Stadt­park als ein Platz. Vineta hieß die Stadt, die in den Sturm­flu­ten des Jahres 1183 von der Insel Wollin fort­ge­spült worden sein soll, so dass bis heute niemand weiß, ob es sie tatsäch­lich gege­ben hat.
Woran soll uns der Name also erin­nern? Es können Kata­stro­phen gesche­hen, natür­li­che und von Menschen erzeugte, nach denen niemand die Welt wieder­erkennt, wenn es sie dann über­haupt noch gibt. “Unter­stüt­zen Sie unsere Arbeit durch rück­sichts­vol­les Verhal­ten”, für Parks, um die das tüch­tige Garten­bau­amt sich kümmert, reicht Rück­sicht­nahme viel­leicht, für die Stadt und die Welt nicht.
Wer oben in den Häusern der DeGeWo an der Nord­west­ecke des Plat­zes wohnt, freut sich schon auf den Augen­blick, da er auf die Terrasse heraus­tritt und den ersten grünen Schim­mer in den Bäumen sieht. Die Wohn­an­lage ist sorg­fäl­tig verwal­tet; als ob man sogar mit dem Müll achtungs­voll umginge, heißt es an einer dunkel­blauen Tür: “Müll­raum”, dane­ben “Fahr­rad­raum”; der Innen­hof ist ein Platz im Platz, der im leich­ten Schnee­fall mit einer solchen gesam­mel­ten Ruhe daliegt, dass ich fast die Früh­lings­sehn­sucht vergesse.

Wo sich die Wolli­ner Straße leicht nach rechts in die Graun­straße anhebt, biege ich nach links in die Demmi­ner Straße ein. Den Platz selbst über­quert diese Straße — als Auto­weg beid­seits mit Wende­kreis endend — als Fußgän­ger­weg.
In unent­schie­de­nen Braun­tö­nen zieht sich der west­li­che Wohn­block um die Ecke der Swine­mün­der Straße. Unten: Balkan­grill, in der Platz­dia­go­na­len gegen­über: Il Paese, ein Italie­ner natür­lich; hoffent­lich denken die Bewoh­ner hier so multi­kul­tu­rell wie ihre Knei­pen sind: Gast­stät­ten als zivi­li­sa­to­ri­sche Vorrei­ter einer in Regio­nen, aber nicht in Natio­nen geglie­der­ten euro­päi­schen Gesell­schaft; am Natio­na­lis­mus, in Arbeit und Krieg, sind viele gestor­ben, welche hier wohn­ten, als der Platz noch nicht diesen stadt­land­schaft­li­chen Charak­ter hatte. Ist die Ruhe, die der Vineta­platz an diesem Sonn­abend ausstrahlt, also Frie­den?
“Fröh­li­ches Wohnen” verheißt unten an der Demmi­ner Straße, wo sie schon die Betrieb­sam­keit der Brun­nen­straße aufnimmt, der Liefer­wa­gen von Andreas Schnei­der, der um die Ecke sein Geschäft für Marqui­sen und Jalou­sien betreibt.
In der Station Volta­straße kehre ich in den Unter­grund der U‑Bahn zurück, aus der ich eine Halte­stelle früher gekom­men bin. Der Erwei­te­rungs­bau der Bank­ge­sell­schaft Berlin, durch den der Zeit­geist-Archi­tekt Klei­hues die Südseite der Brun­nen­straße mit einer Riesen­mauer abschließt, denun­ziert die Nord­seite der Straße, auf der die Menschen sind und sich — viel­leicht mit Hilfe der Fami­lien-Video­thek — einzu­rich­ten versu­chen in ihrem Alltag und in der Stadt, von der sie hier unten schon nicht mehr sicher wissen können, ob es die ihre ist.
Ist der Weg vom Arko­na­platz zum Vineta­platz ein Weg von Insel zu Insel?

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Frido­lin freu­den­fett / CC BY-SA 4.0

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