Ein Mal Ehren – I.

Nament­lich fing mein heuti­ger Weg ja rich­tig an: Plän­ter­wald … das klingt nach Helden, die ich später besu­chen will, Tolkien und Michael Ende, aber an der S‑Bahn-Station Plän­ter­wald sieht es erfreu­lich unhel­disch aus. Die flache Bahn­hofs­halle führt auf einen klei­nen Vorplatz, der zwischen die S‑Bahn und die wilde Köpe­ni­cker Land­straße eine schmale Zone land­schaft­li­cher Ruhe legt. An den Fassa­den der Wohn­bau­ten rechts beginnt hier eine sachte Farb­lich­keit, die erst oben hinter der Orion­straße, der 2. Grund­schule gegen­über, kräf­ti­gere Töne annimmt; die Gali­lei­straße zur Rech­ten hat fast schon etwas Park­haf­tes, früher sagte ich zu solchen Eindrü­cken: “Bad Pyrmont”, aber ich kenne Bad Pyrmont gar nicht.
Als das Rathaus Trep­tow um die Ecke 1909 oder 1910 gebaut wurde, war hier wohl gar nichts, bloß Land­schaft. Bis heute liegt dieses Rathaus, das städ­tisch aussieht wie irgend­ein Rathaus, in einer ganz unstäd­ti­schen Umge­bung. Menschen sieht man nur in Autos. Auch drin­nen ist das Amts­ge­bäude eine Oase der Ruhe. Die Bezirks­amts-Mitglie­der (2 Frauen, 3 Männer) blicken freund­lich von Fotos im Entree, die Aushänge sind veral­tet, Einla­dun­gen zu Sitzun­gen, die schon waren. “Die Bedie­nung des Trep­pen-Roll­stuhls wird durch die Haus­meis­ter gewähr­leis­tet”.

Wer drau­ßen an der Stra­ßen­kreu­zung Bulga­ri­sche Straße, Neue Krug­al­lee, Alt Trep­tow steht, sieht rechts zwar die Spree in einer Umge­bung, die man von der ande­ren Seite einen “Hafen” nennt, aber sonst nur Gewächse, Stra­ßen, Autos. Das Fischer­denk­mal, in Weima­rer Zeiten vor das Rathaus gestellt, wirkt unpas­send. Oder ganz passend, denn das Netz, das der nackte starke Mann nach dem Willen des Begas-Schü­lers aus dem klei­nen künst­li­chen Bassin zieht, ist leer; jeden­falls hat der Bild­hauer die Frage nach den Fang­er­geb­nis­sen unbe­ant­wor­tet gelas­sen.
Die Tank­stelle (elf: “Blei raus, Power rein”) ist zeit­ge­mä­ßer. Wilhelm Pieck, der früher auch vor dem Rathaus stand, ist weg, beim Sena­tor für Kultur einge­la­gert; worauf wartet er da oder worauf wartet der Sena­tor?
Der Weg durch Alt-Trep­tow führt vor Uhle­manns Draht­zäu­nen an den Brand­res­ten eines Park-Restau­rants vorbei, das — wie ich an den Buch­sta­ben­re­lik­ten able­sen — nach dem Plän­ter­wald hieß, dem lich­ten Wald, der gar nichts Heldi­sches hat.
Das Heldi­sche liegt auf der ande­ren Seite. Der Held der Archen­hold­schen Stern­warte ist nicht Archen­hold, der Grün­der und schnöde vertrie­bene Volks­as­tro­nom, der den Gewerk­schafts­bund für die Astro­no­mie begeis­tert hatte, auch nicht das Riesen­fern­rohr, das immer noch welt­rie­sig ist, wenn auch veral­tet, sondern Einstein.

Es wird behaup­tet, dass Einstein, der später alle deut­schen Orden ablehnte, weil er ein für alle Male nicht mehr glau­ben wollte, dass “die Kerle Demo­kra­ten werden”, hier — mitten im ersten Welt­völ­ker­mor­den, nämlich am 4. Juni 1915 -, den ersten öffent­li­chen Vortrag über die Allge­meine Rela­ti­vi­täts­theo­rie hielt. Aber er hat diese Theo­rie doch erst im Novem­ber 1915 der Akade­mie der Wissen­schaf­ten vorge­stellt und im Juni 1915 war er doch in Göttin­gen, weil die dorti­gen Mathe­ma­ti­ker besser waren als die Berli­ner, und dann fuhr er mit seiner neuen Fami­lie nach Rügen. Wer hat ihm da in der Stern­warte zuge­hört?
Die Allge­meine Rela­ti­vi­täts­theo­rie versteht doch niemand, der nicht die höhere Mathe­ma­tik beherrscht, selbst Nobel­preis­trä­ger haben sie damals nicht verstan­den, und Alfred Döblin hat sich bitter beklagt, dass die Einstein­sche Theo­rie so unan­schau­lich sei, ganz anders als die Theo­rien von Gali­lei, Kepler und Koper­ni­kus.
Da hat Einstein gesagt (aber zu einem Nobel­preis­trä­ger, nicht zu einem Gewerk­schafts-Sekre­tär oder Schrift­stel­ler): “Was der Mensch als anschau­lich betrach­tet, ist eine Funk­tion der Zeit. Diese anschau­li­chen Vorstel­lun­gen haben ihre Tücken, genau wie der viel zitierte gesunde Menschen­ver­stand.” Der Nobel­preis­trä­ger, mit dem Einstein da sprach, war bar allen gesun­den Verstan­des, ein früher Nazi, für den die größte Theo­rie des Jahr­hun­derts ein “typisch jüdi­sches Blend­werk” war. Blei­ben wir also bei der Legende, dass mitten im Welt­krieg die Gewerk­schaf­ter, die die Archen­hold-Stern­warte finan­ziert hatten, oder viel­mehr ihre Frauen, weil sie selbst sich ja für Kaiser und Vater­land gerade totschie­ßen ließen, verstan­den, was Einstein ihnen früher als der preu­ßi­schen Akade­mie über Rela­ti­vi­tät sagte. Nach­fra­gen kann ich nicht. Die Stern­warte ist vormit­tags geschlos­sen, Mitt­woch bis Sonn­tag­nach­mit­tags jeweils nur 1 1/2 Stun­den auf, das Riesen­fern­rohr bewegt sich sonn­tags um 3 zu einem Kurz­vor­trag.

Ein Denk­mal von Einstein ist nicht vor der Warte. Aber ein klei­ner freund­li­cher Granit-Kopf von Archen­hold, auf dem der Volks­as­tro­nom sympa­thisch aussieht wie eine Figur von Loriot, sehr mensch­lich trotz des Granits. Früher gab es hier auch einen “Hain der Kosmo­nau­ten”; bild­haue­risch wohl keine Glanz­leis­tung, aber Gaga­rin, Jähn und Vale­rie und Bykow­ski waren doch im All, auch wenn Herr Radun­ski ihnen viel­leicht nicht zuge­se­hen hat?
Im Keller der Stern­warte hat eine Wider­stands­gruppe gegen die Nazis falsche Pässe und Flug­blät­ter herge­stellt, bis sie verpfif­fen wurde, und als Sport­ler verklei­det, haben sich die Mitglie­der des ZK der KPD, heißt es, am Fern­rohr zu ihrer letz­ten Sitzung auf deut­schem Boden getrof­fen. Waren Walter Ulbricht und Herbert Wehner dabei? Oder ist alles nur Legende, weil das Fern­rohr, das wie ein fallen­der Riesen­pe­nis auf dem Dach des Gebäu­des liegt, für manche wie eine Kanone wirkt und weil Kano­nen immer noch für manche nach Helden­tum ausse­hen.

Während ich zu Zenner hinüber gehe, der klas­sisch-volks­tüm­li­chen Vergnü­gungs­stätte, denke ich an Einstein, den Pazi­fis­ten, viel­leicht ist er nach seinem Vortrag bei Archen­hold herüber gekom­men für ein kühles Bier, Boulet­ten und Kartof­fel­sa­lat. Da hat er auf dem selben Stuhl geses­sen wie Theo­dor Fontane, der die Wege von Leopold Trei­bel ausspü­ren wollte. Das Volks­gast­haus, über das dann WK II ging, hatte Lang­hans gebaut, der Archi­tekt des Bran­den­bur­ger Tores.
Das eigent­li­che Ehren­mal kommt nun aber erst noch; drüben inmit­ten des Parkes, wo zur Gewer­be­aus­stel­lung 1896 ein künst­li­scher See war. Durch die Alleen ging ein kühler Wind. Was er mir zutrug, erzähle ich das nächste Mal.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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