Zwei Leben am Gesundbrunnen

Die ersten Jahre haben wir in der Ramler­straße 13 bzw. 21 gewohnt. Zur Schule sind wir die ganzen acht Jahre, von 1932 bis 1940, zusam­men in eine Klasse der Volks­schule in der Graun­straße gegan­gen.
Zur dama­li­gen Zeit wurde, daran kann ich mich noch gut erin­nern, am 9. Novem­ber der Helden­ge­denk­tag began­gen. Da muss­ten wir dann zur Aula rauf. Der große Mittel­gang der Schule war — sehr zeit­an­ge­passt — ausge­schmückt mit Bildern und Fahnen. Unser Klas­sen- und Gesangs­leh­rer hatte eher Wander­lie­der am Klavier locker leicht vorbe­rei­tet, nicht so Marsch­mu­sik usw. Aber es war aus meiner heuti­gen Sicht der poli­ti­sche Wille der Macht­ha­ber spür­bar.
Poli­tik war kein direk­tes Fach, wir haben aber ein Führer­bild im Klas­sen­raum gehabt. Wir haben solche Lieder und Gedichte gelernt. Geschicht­li­che Daten wie die Münch­ner Feld­her­ren­halle usw. muss­ten wir natür­lich lernen. Aber es wurde uns nichts direkt einge­häm­mert.
Wir hatten regel­mä­ßig Reli­gi­ons­un­ter­richt. Zwei jüdi­sche Schü­ler kamen morgens später, wenn wir evan­ge­li­schen Unter­richt hatten, das fiel uns natür­lich auf.
Unse­ren Klas­sen­leh­rer hatten wir insge­samt fünf Jahre. Zunächst soll­ten wir Fräu­lein L. bekom­men, die war aber Halb­jü­din und musste weg von der Schule. Da hat uns Herr S. über­nom­men, später wurde er Rektor.
Man wusste auch, aus welchem Haus die einzel­nen Mitschü­ler kamen. Arbei­ter und sowas. Dass ich z.B. aus einem Geschäfts­haus­halt kam, wusste man natür­lich. Das wirkte sich dann aus bei Klas­sen­fahr­ten und Ausflü­gen, bei dem Geld. Zum Beispiel bei einer Fahrt nach Stet­tin hat Herr S. meine Eltern ange­spro­chen, ob sie etwas mehr geben konn­ten, damit alle mitkom­men können. Die Fahrt nach Stet­tin war sehr schön, wie wir da am Hafen stan­den. Ich kann mich erin­nern, dass meine Tante in Ahlbeck Urlaub machte und uns dort besuchte und uns mit Obst versorgte.
Zu Beginn des Krie­ges muss­ten wir dann ganz schnell zurück. Einige unse­rer Mitschü­ler haben ihre Väter nicht mehr gese­hen, weil sie zum 1. Septem­ber schon einge­zo­gen waren.
Es waren viele von ihnen Arbei­ter, Stra­ßen­bahn­bauer, beim Magis­trat, Post­bote, bei der AEG, Müll­kut­scher, Stra­ßen­fe­ger oder Gleis­ar­bei­ter (“Ritzen­schie­ber”). Uns gegen­über war ein Konfek­tio­när, ein Zwischen­meis­ter. Eine Mutter hatte eine Knopf­loch­ma­schine und arbei­tete zuhause. Von einem Mitschü­ler weiß ich, der Vater war Vertre­ter. Verschie­dene Väter waren bei der AEG oder Siemens. Jeden­falls war das hier ne reine Arbei­ter­ge­gend.

Wir durf­ten viel auf dem Hof spie­len. Wir sind rumge­lau­fen, auf dem Gelän­der rumge­klet­tert, auch auf die Millio­nen­brü­cke geklet­tert. Wir haben Hoppse auf der Straße gespielt, sind aber auch zum Humboldt­hain gezo­gen, das war aber schon weit weg. Wir sind also mehr oder weni­ger am Haus geblie­ben. Wenn wir zum Humboldt­hain gingen, war immer irgend­eine Mutter dabei, soweit die Mütter das konn­ten. Unsere Mütter muss­ten ja auch arbei­ten, die eine im Geschäft, die andere hat gebü­gelt. Am späten Nach­mit­tag, wenn teil­weise die Eltern schon wieder zuhause waren, konn­ten wir noch vor die Tür, die Stra­ßen des klei­nen Karrees oder gar das große Karree ablau­fen. Das war schon sehr viel.
Einkau­fen gingen wir, jeden­falls ich mit meiner Mutter, zum Rosen­tha­ler Platz. Da war Wert­heim und Schuh-Leiser und in der Inva­li­den­straße waren Geschäfte, da haben wir auf Kredit gekauft. Auch in die Acker­halle hatte mich meine Mutter, als ich größer war, mit elf oder zwölf Jahren, von der Ramler­straße bis zur Inva­li­den­straße geschickt, um dort einzu­kau­fen. Da konnte man ja dann auch anschrei­ben und nach einer Woche bezah­len. Vieles wurde über­haupt über Anschrei­ben in dieser Zeit gekauft, das wurde in den Geschäf­ten “aufad­diert”. Auch mein Groß­va­ter im Geschäft musste abends die Hefte und Listen aufad­die­ren und zum Frei­tag mit vielen Schwie­rig­kei­ten die wöchent­li­chen Beträge einzie­hen. Das war so bei Milch­ge­schäf­ten, bei Gemü­se­ge­schäf­ten und Fleisch­ge­schäf­ten.

Die Lebens­um­stände waren sehr beschei­den. Übli­cher­weise gab es nur Stube und Küche, da haben dann durch­aus vier bis fünf Perso­nen drin gewohnt. Und die Toilette war oft eine halbe Treppe tiefer. Schon ein biss­chen besser war es, wenn zwei Stuben und Küchen waren. Da war aber so viel abge­knapst worden, dass es von der Wohn­flä­che wieder verlo­ren ging. Da wurde z.B. eine Mauer vom Boden bis zur Decke gezo­gen. Da, wo es eine Innen­toi­lette gab, war darüber der soge­nannte Hänge­bo­den.
Es war anfangs durch­aus noch Gasbe­leuch­tung in den Wohnun­gen. In den 30er Jahren kam elek­tri­sches Licht. Aber wir waren vornehm, weil wir im Vorder­haus wohn­ten, wegen des Geschäfts, wir hatten früher elek­tri­sches Licht. Unsere Wohnung hatte auch schon eine Toilette, aber kein Bad.
1932, ich war da sechs Jahre alt, meine Eltern eine Wohnung gesucht hatten, da war auch schon Wohnungs­knapp­heit. Eine Wohnung vorn in der Ramler­straße wurde besich­tigt, bei der meiner Mutter nicht gefal­len hat, dass man durchs Wohn­zim­mer in die Küche musste.
Ich kann mich erin­nern, wenn wir irgendwo raus­ge­fah­ren sind, mein Opa war schon immer so ein Auto­narr, dann konn­ten dort “Fami­lien Kaffee kochen”. Und wenn ich mit Opa ein Stück Kuchen bestellte, sagte der immer: Nicht Oma sagen, denn Oma meinte, den Kuchen könne man auch von zuhause mitneh­men, das ist Verschwen­dung.
Wir wurden beschei­den geklei­det. Dass wir dreckig und zerlumpt rumlie­fen, kann ich mich nicht erin­nern. Wir wurden sauber gehal­ten.
Unsere Clique war auch toll. Ja, aber es gab einige Probleme zwischen den Eltern, wegen der Deut­sche Chris­ten. In der Wohnung des Pfar­rers Werder wurden für 30–40 Perso­nen gekocht und Kaffee und Kuchen vorbe­rei­tet. Viele Menschen wurden dort durch­ge­schleust. Meine Mutter hat viel dort ausge­hol­fen. Mitte der Drei­ßi­ger Jahre, mit acht bis zehn Jahren, habe ich noch nicht so viel mitge­kriegt. Ich kann mich erin­nern, dass Pfar­rer Werder gele­gent­lich ohne Talar zum Gottes­dienst kam. Natür­lich nicht bei der Konfir­ma­tion. Da ging der Zug über die Brun­nen­straße, da hat sogar ein Schupo gestan­den und die Konfir­man­den unge­hin­dert über die Straße gelas­sen, es werden 230 Konfir­man­den gewe­sen sein. Es musste in der alten, noch stehen­den, Frie­dens­kir­che gebib­bert werden, weil Herr Werder nicht in die Himmel­fahrt-Kirche einge­las­sen wurde. Pfar­rer Werder war eine Seele von Mensch, der sich in alle Probleme rein dachte, während seine Frau sehr streng war. Sie hatte zwar Erzie­he­rin gelernt, konnte aber nicht aus sich heraus­ge­hen.
Es wurde bei uns, von Pfar­rer Werder orga­ni­siert, Feri­en­plätze orga­ni­siert. Man musste etwas zuzah­len und dafür war man dann in den großen Ferien vier Wochen von der Straße weg. Es wurden vier Grup­pen gebil­det. Ich war beispiels­weise mal mit 250 Kindern hinter Zossen, ein ande­res Mal in Falken­see, Grön­heide. Das war von der Kirche bezahlt worden. Außer Morgen- und Mittags­ge­bet wurden wir nicht christ­lich bekniet. Es wurde sehr fröh­lich zusam­men­ge­hal­ten, etwas Bota­nik wurde vermit­telt, Pfad­fin­der­spiele waren orga­ni­siert worden. Es war kirchen­na­hes Betreu­ungs­per­so­nal tätig, weit­ge­hend ehren­amt­lich. Die Pfar­rer kamen Sonn­tag Nach­mit­tag, sie hatten ja in der Gemeinde viel zu tun. Wir als Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren muss­ten unsere Betten selbst machen, beim Gemü­se­put­zen helfen, das Geschirr raus­brin­gen und abwa­schen. Wir muss­ten auch einkau­fen, z.B. mit zwei Wasch­kör­ben morgens Bröt­chen holen usw. Wir haben Beeren gesam­melt, die dann als Nach­tisch gereicht wurden. Dabei wurden wir dazu erzo­gen zusam­men­zu­hal­ten, es gab keinen Knietsch und Knatsch und keine Dresche dabei.
Zur Schul­spei­sung fällt mir noch ein: Da wurden wohl die häus­li­chen Verhält­nisse über­prüft, ich bekam kein Essen, weil ich ja im Lebens­mit­tel­la­den lebte. Ich war immer trau­rig, dass ich nicht, wie die ande­ren z.B. Kakao oder Suppe aus dem großen Kübel erhielt. Da habe ich immer mein Brot getauscht, weil mir das natür­lich viel besser geschmeckt hat.

Am S‑Bahnhof Gesund­brun­nen, wo heute Klein­ge­werbe ange­sie­delt ist, waren auch damals schon kleine Betriebe, Kohlen­hand­lun­gen usw. Da bin ich an der Bahn­mauer wunder­schön immer runter­ge­rutscht. An der Swine­mün­der Brücke war ja früher ein zwei­ter S‑Bahn-Eingang für die Leute auf der andern Seite. Da gab es auch hölzerne Fahr­kar­ten­schal­ter von der Brücke aus.

[Frage nach dem Krieg]
Wir sind nicht ausge­bombt worden. Dadurch, dass durch die Flak­türme im Humboldt­hain wohl eini­ges abge­fan­gen wurde, sind wir rela­tiv wenig betrof­fen worden, wenn auch einige Freun­din­nen, z.B. in der Gleim­straße, völlig ausge­bombt wurden. Brand­bom­ben wurden von den Haus­be­woh­nern gelöscht. Hier in der Swine­mün­der und Putbus­ser Straße war alles weg. In der Putbus­ser waren die ersten Ruinen über­haupt.
Durch die vielen Bomben­an­griffe hieß es natür­lich immer: Komm bloß gleich nach hause, es kann gleich wieder Flie­ger­alarm geben. Das führte dazu, dass man sich gar nicht mehr sah. Ich bin dann oft mit der Oma in den Bunker im Humboldt­hain gelau­fen, weil wir immer dach­ten, dass die Eckhäu­ser (wir wohn­ten ja in einem Eckhaus) getrof­fen werden könn­ten, etwa um die verkehrs­wich­tige Millio­nen­brü­cke zu vernich­ten.
Andere sind immer zuhause geblie­ben. Man ging in den Haus­kel­ler, viele Männer waren ja nicht mehr da. So war etwa in einem Haus hier ein beson­ders Nazi-treuer Mann, Luft­schutz­wart. Der hat den Frauen mit Kindern beim Einschla­gen von Bomben in der Nach­bar­schaft verbo­ten, zu wimmern und zu weinen: “Deut­sche Frauen weinen nicht, wenn die Männer drau­ßen sind.” Wenn Söhne oder Männer gele­gent­lich auf Urlaub nach Hause kamen, stell­ten sie fest, dass es hier viel schlim­mer ist als drau­ßen. Einige andere in diesen Keller­ge­mein­schaf­ten haben aber dann mit Umsicht und Vernunft gehol­fen.

Dieses Gespräch wurde und uns freund­li­cher­weise von der Himmel­fahrt­kir­che zur Verfü­gung gestellt. Inter­viewt wurden zwei alte Damen Jahr­gang 1926, die beide am Gesund­brun­nen aufge­wach­sen sind. Die behan­delte Zeit rund um den Faschis­mus haben die beiden Freun­din­nen zum größ­ten Teil gemein­sam erlebt. Eine der Damen hat noch bis 1984 bei der AEG in der Brun­nen­straße gear­bei­tet.

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