Hinauf, hinab

Spazier­gänge sind das gar nicht. Lern­gänge, Touren durch die Emotio­nen, zu denen sich Gegen­wart und Geschichte verbin­den, Gedan­ken und Gefühle, Kopf und Herz in hefti­gem Dialog. Ich kann mich an Namen halten, bestehende, gewe­sene, Perso­nen, lebende, tote, oder an die Orte selbst, in jetzi­ger oder frühe­rer Gestalt. Bersa­rin, Niko­lai Erasto­witsch, Mit-Erobe­rer Berlins, erster Stadt­kom­man­dant, noch 1945 umge­kom­men, Motor­rad­un­fall; vor ihm hieß der Platz, auf dem ich jetzt stehe, nach den Balten. Er ist 135 Jahre alt. Als ich 1961 nach Berlin kam, saß ich mit meinem Freund Johann Geist, der später der große Geschichts­schrei­ber des Berli­ner Miets­hau­ses wurde, über dem Plan von James Ludolf Hobrecht, dem Berlin bis heute seine sich von den Stra­ßen abhe­bende Gestalt verdankt. Auf diesem Plan von 1862 ist der Bersa­rin­platz, noch ganz im Haus­lo­sen, der Platz N; er sieht aus wie eine 6‑beinige Spinne, nein; wie ein 6‑strahliger Stern, der eine Fahne hoch­hält: das ist weiter nörd­lich Platz M: der Peters­bur­ger Platz, den ich hinten liegen sehe mit der Pfingst­kir­che in der Front, Zeige­fin­ger, Steck­na­del, Ausru­fe­zei­chen. Der Bersa­rin­platz wider­legt das Vorur­teil gegen das Schräge.
Gerade das Schräge ist das Schöne, denn es ist das Aufstei­gende und Abfal­lende: Um den B‑Platz geht es hinauf oder hinab. In seiner Mitte ist der Platz eine Blumen­ra­batte, leider nicht zum Dasit­zen. Ich bin für Plätze, die beses­sen werden können; am liebs­ten mit Brun­nen, hier müsste einer sein, der seine Wasser nicht aufstei­gen, sondern von der Peters­bur­ger Straße her herab­spru­deln ließe. Ich stehe vor der Taverna Hellas, multi­kul­tu­rel­les Ensem­ble: Hellas, Bersa­rin, Rügen, Thear, Peters­burg, darun­ter noch Danzig, die Balten, und über­all in diesem Bezirk Horst Wessel, nach dem die ganze Örtlich­keit hieß in gewis­ser deut­scher Vergan­gen­heit, die wir verges­sen, aber nicht ins Nicht­ge­we­sene verschwin­den lassen können. Die Stalin­al­lee im Bezirk Horst Wessel: Der Zeit­geist schrieb die Melo­dien für das braune Gefühl wie das rote: Die Fahne hoch, Völker, hört die Signale. Was sind Inhalte gegen eingän­gige Töne?

Pazi­fis­mus — wäre das dage­gen die Haltung, die vieles und viele, die hier zerstört wurden, erhal­ten und am Leben gelas­sen hätte? Ich glaube es, indem ich die Mühsam­straße über­quere; ich grüße im Geiste meinen Lübe­cker Lands­mann Erich Mühsam, verfolgt, ermor­det, ein deut­scher Pazi­fist. Durch die Straße, die nach dem Groß­kauf­mann Ebel­ing heißt, in die Weis­bach­straße. Valen­tin Weis­bach, Bankier, ich will ihm die Ehre geben, 1943 bis 1899 Vorsit­zen­der des Vereins zur Verbes­se­rung der klei­nen Wohnun­gen. Er hat die 16 fünf­ge­schos­si­gen Miets­häu­ser selbst nicht mehr gese­hen, die er hier um einen grünen Innen­hof gegen die bittere Wohnungs- und Lebens­not errich­ten ließ. Archi­tekt: Alfred Messel, keine verlo­gene Prunk­fas­sade, fast Zwei­drit­tel der Wohnun­gen mit Quer­be­lüf­tung, jede Wohnung mit Balkon und Innen­toi­let­ten, zu Jahr­hun­dert­be­ginn abso­lute Selten­heit in Arbei­ter­quar­tie­ren. Die WBF hat das Quar­tier eben vorbild­lich restau­riert. In der Koch­hann­straße kleben noch die Mittei­lun­gen der BILA, Bürger­initia­tive Lands­ber­ger Allee, an den Wänden, die gegen die Verkehrs­füh­rung durch das Wohn­ge­biet gekämpft und Lärm vermin­dern­den Teer­be­lag erstrit­ten hat. Auch der Namens­ge­ber dieser Straße war ein Kauf­mann aus der Zeit, in der dieses Arbei­ter­vier­tel hoch­wuchs, die Namen der Eigen­tü­mer halten sich; die hier wohn­ten und litten, gingen namen­los hinab. Am Ende der Straße sehe ich schon den Fried­hof.

Davor die Richard-Sorge-Straße; die Straße des Spions, der rich­tig gesagt hatte, was man ihm in Moskau nicht glau­ben wollte, führt an der alten Patzen­ho­fer Braue­rei vorbei; Rohmer, Alter­thum & Zadek hießen die Archi­tek­ten mit eindrucks­vol­len Namen, von deren Bauwerk nur noch die Fassade übrig ist; man muss sie besich­ti­gen und die Leere dahin­ter, an deren ande­rem Ende der Fried­hof liegt. Die Bull­do­zer fahren schon, aus der Leere werden sich für die Brau & Brun­nen des inter­na­tio­na­len Nestlé-Konzerns neue Gebäude erhe­ben, die Geschichte wird nur noch Deko­ra­tion sein, ich werde mir Mühe geben, in Erin­ne­rung zu behal­ten, wie es jetzt aussieht: die Stadt wirft ihre alten Klei­der fort, zieht sich neue an. Nach rechts biege ich in die Auer­straße. Vorher hat die Straße nach einem Poli­zei­prä­si­den­ten gehei­ßen, da ist mir Auer lieber: ein Frei­herr, Erfin­der (Gasglüh­strumpf), Fabri­kant. Es geht abwärts, die Straße hat — wenn man so sagen kann — schöne Bewe­gung, kurz vor dem ange­ne­men Platz den sie mit der Löwest­raße bildet: Herr Liese­gangs Garage, die Kurio­si­tät, die ein Dick­kopf schuf, der GSW gegen­über auf seinem fast unbrauch­ba­ren Schup­pen behar­rend; deshalb kein Wohn­haus, Indi­vi­dua­li­tät statt gemei­ner Nutzen: das ist die Rechts­ord­nung, leicht zu kriti­sie­ren, aber auch zu recht­fer­ti­gen. Ich habe Sympa­thie für Herrn Liese­gang (aber viel­leicht ärgert er sich schon, weil er zu hoch gepo­kert hat?).
Hinter alle­dem liegt der Fried­hof. Der Weg durch den hinte­ren Teil der Auer­straße, beid­seits gesäumt von den nun fast elegant wirken­den Ausläu­fern der Pracht­straße, rechts ein Stück den Weiden­weg entlang, wieder rechts in den Fried­hof und die Fried­hofs­al­lee an den Höfen von Auer- und Sorge-Straße auf der ande­ren Seite wieder entlang: das ist eine Spazier­gang­s­at­trak­tion erster Klasse, das sieht man nirgendwo sonst: die Toten dicht bei den Leben­den, die Verges­se­nen und die Namen­lo­sen, im Rücken von Herrn Liese­gangs Schup­pen ein Kinder­fried­hof, Cynthia, Gina, Silke, Steve, Daniela, Vicky, Reem, die Krosusse blühen auf den Gräbern.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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