Schlussstück

Die Tuchol­sky­straße verbin­det die Geschwis­ter-Scholl-Straße mit der Torstraße, vor kurzem hätte man noch sagen können: mit der Wilhelm-Pieck-Straße. Die edlen baye­ri­schen Geschwis­ter hat Tuchol­sky nicht kennen können, Wilhelm Pieck hat er nie gekannt. Die Straße beginnt mit einer Brücke, die unter dem Verkehr heftig zittert, sie endet vor einem Restau­rant, das nach Tuchol­sky heißt, in seinem Firmen­logo die Unter­schrift des Publi­zis­ten unge­schickt nach­ahmt und auch sonst wenig mit ihm zu tun hat.
Es ist eine Berli­ner Augen­blick­straße. Natür­lich ist es hier — mindes­tens am Rande des soge­nann­ten Scheu­nen­vier­tels — auch eine Gestern-Straße. Ich will das Gestern verges­sen. Aus der Geschichte wird nichts gelernt. Man will nicht, und man soll nicht.
Das jüngste Beispiel hat Günter Grass geschaf­fen, viel­mehr andere, u.a. der Mann, von dem der Verle­ger Kind­ler uns gesagt hat, dass er kein Neonazi sei, sondern ein Pastor und Gene­ral­se­kre­tär einer Partei, deren Vorsit­zen­der — wie ihm gedankt sei — geschwie­gen hat.
Aus der Geschichte lernen hieße: die Anfänge erken­nen, wovon man das Ende kannte. Verglei­chen, nicht unter­schei­den. Wer Geschichte nur kennen will, der lernt nicht aus ihr, weil er Indi­vi­dua­li­tät erkennt, wo er Vergleich­bar­kei­ten fest­stel­len soll.
Ich will also nichts wissen vom Zustand dieser Straße, als sie Wasser­gasse hieß; oder Artil­le­rie­straße, weil hinten eine Artil­le­rie­ka­serne lag. Über­all in Berlin, in so zentra­lem Areal, ist viel passiert. Viel Böses. Eigent­lich Unver­gess­li­ches. Aber wir wollen lieber verges­sen. Geschichte ist out. Die Tuchol­sky­straße mit ihrem Nach­kriegs­na­men von 1951 ist eine Gegen­warts­straße. Verfall und Erneue­rung; vieler­orts in Berlin sieht es so aus wie hier, ein neues Berlin erhebt sich aus dem abblät­tern­den alten, das deut­li­che Zeugen hat stehen lassen. Was gestern noch Verfall war, erhält heute seinen nost­al­gi­schen Schick und bietet edlen Klamot­ten- und Anti­qui­tä­ten­läd­chen Platz — wie hier, oben, Ecke Lini­en­straße.
An der Straße stehen Baudenk­mä­ler, Häuser, die die schi­cken Bild­bände schmü­cken, das Post­fuhr­amt zum Beispiel Ecke Orani­en­bur­ger Straße, dessen Fassade man auf die Neue Synagoge bezie­hen kann, die längst eine alte und über­haupt keine Synagoge mehr ist. Sondern ein Synago­gen­denk­mal. Und eigent­lich viel zu schön (hörte ich neulich einen Groß­in­tel­lek­tu­el­len sagen, ich weiß nicht, ob ich mich ihm anschlie­ßen soll).

Der untere, südli­che Teil der Tuchol­sky­straße, Ostseite, ist auch von einem Post­bau domi­niert — wie hier der nörd­li­che an der Orani­en­bur­ger Straße, eben von der in ihrer Länge fast edel wirken­den, gelb-rötlich sich hinzie­hen­den Fassa­den­front des Fuhr­am­tes. Auch ein Denk­mal. Dass da ein Museum rein­kommt, viel­leicht, das passt also, viel­leicht; Hoch­schule wäre besser gewe­sen, leben­di­ger.
Berlin ist in Gefahr, sich selbst zum Museum zu machen; die Denk­mal­schüt­ze­rei ist nur als Subven­ti­ons­tat­be­stand verständ­lich, besser wäre es, den Staat von den Fassa­den zu entfer­nen; werden zu lassen, was von selbst werden will. Die Stadt legt ihre alten Klei­der ab — das wäre ein bild­li­cher Ausdruck, der beschriebe, was in solche Innen­stadt­stra­ßen zur Zeit passiert.
Aber solche Sprach­bil­der taugen nichts. Die Fassa­den der Häuser sind nicht die Klei­der der Stadt. Besser sagte man: Die Stadt über­tüncht ihre Geschichte. Aber auch das taugt nichts. Was soll die Stadt denn sonst tun? Und die Stadt selbst tut gar nichts. Menschen tuns, Betei­li­gungs­ge­sell­schaf­ten, die — hier zum Beispiel — Medi­en­häu­ser bauen und es schick finden, dass Häuser mit neumo­di­schem Inhalt ein altmo­di­sches Gepräge erhal­ten.
Wir können doch unsere Geschichte auch gefäl­lig erzäh­len. Was früher Not und Elend war, das kann heute doch schick ausse­hen und den Schi­ckis und den Mickis Bühne geben.
“Was schreibst du denn da?”, fragt die intel­li­gente Frau, die mit jetzt über die Schul­ter sieht und wohl immer etwas in Sorge ist, dass ich mich Stim­mun­gen hingebe. Da hat sie Recht.
Die Tuchol­sky­straße hat es mir ange­tan wegen ihres elegan­ten, aufwärts gerich­te­ten Schwun­ges und wegen der Blicke, die sie in August- und Lini­en­straße ermög­licht in ein Berlin, das fort ist und nie wieder­kommt.

Nummer 40, das Gemein­de­haus von Adass Jisr­oel. Hier wäre nun eine lange Geschichte möglich. Ich will sie nicht erzäh­len. Das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt hat diese israe­li­sche Gemeinde jüngst als Körper­schaft des öffent­li­chen Rech­tes aner­kannt. Ich spre­che in Verfas­sungs­vor­le­sun­gen darüber. Aber das Thema ist — wie viele juris­ti­sche Themen — nur schein­bar juris­tisch. Die Juris­pru­denz ist Vorwand, Bühne. Adass Jisr­oel hat seinen juris­ti­schen Sieg — haupt­säch­lich über die andere große jüdi­sche Gemeinde in Berlin — schnell doku­men­tiert: an der Tür des Cafe­hau­ses, Beth-Cafe, das sie hier unter­hal­ten: “Koschere Küche, unter Aufsicht der israe­li­ti­schen Synago­gen­ge­meinde Adass Jisr­oel, Körper­schaft des öffent­li­chen Rech­tes”.
Ich habe Hemmun­gen, hinein­zu­ge­hen. Ich bin nicht vertraut mit der Lebens­kul­tur, denke ich, die hier wieder­erste­hen will. Ich weiß nicht, ob ich erwünscht bin. Viel­leicht wird man mich für einen Täter-Sohn halten.
Ich kann ein biss­chen Hebrä­isch. Ich habe es in Lübeck in der Schule, in den begin­nen­den 50er Jahren gelernt, aber das hilft mir gar nichts, weil es sozu­sa­gen ein christ­li­ches, gar protes­tan­ti­sches Hebrä­isch ist.
Ich bin längst kein Protes­tant mehr.
Über­haupt kein Christ.
Wie Kurt Tuchol­sky, nach dem die Straße heißt, kein Jude war. Er hat das Juden­tum abge­lehnt. Ich bin gegen Rassis­mus. Rasse­ju­den gibt es für mich nicht. Felix Mendels­sohn Bartholdy war kein Jude. Kurt Tuchol­sky erst recht nicht.

Ich bestelle einen Milch­kaf­fee. Er ist sehr gut. Sorg­fäl­tig serviert, billig, 3,30 DM, dafür bekommt man nirgendwo in der Nähe sonst einen anstän­di­gen Milch­kaf­fee. Die S‑Bahn, deren Verlauf die Tuchol­sky­straße oben genau abbil­det, ist von unten dunkel hörbar. Ich finde das als ein symbo­li­sches Geräusch. Es gibt einen Unter­grund.
Ich sitze über einem Unter­grund. An einem klei­nen Marmor­tisch, auf einem Stuhl in Thonet-Imitat. Es ist 1935. Das ist das Jahr, in dem ich gebo­ren bin. Es ist das Jahr, das Kurt Tuchol­sky nicht been­den wird. Es wird sein Leben been­den. Bis dahin schreibt er Briefe. Fast alle an eine Frau in der Schweiz, die er liebt und von der er sich nicht helfen lässt. Außer diesen rühren­den und bedrü­cken­den Brie­fen schreibt er nichts. Schon seit Jahren nicht. 1932, in einem seiner letz­ten Texte, hat er unter dem Titel “Worauf man stolz ist in Europa” abschlie­ßend geschrie­ben: “Ein jüdi­scher Mann sagte einmal: Ich bin stolz darauf, Jude zu sein. Wenn ich nicht stolz bin, bin ich auch Jude — da bin ich schon lieber gleich stolz.”

Drei Jahre später, derselbe Tuchol­sky, am 23.3.1935 aus Hindas, Schwe­den, nach Zürich, Schweiz, durch Deutsch­land hindurch: “Über die deut­schen Juden kein Wort mehr. Mögen sie. Aber die meis­ten ande­ren sind nicht besser — es sind duldende, und wer nicht nimmt, der kriegt nichts. Es sind Skla­ven in tiefs­ter Seele, ihr Schick­sal ist ihnen ange­mes­sen.” Dann kommt noch eine Absage an Verän­de­rung und Hoff­nung, Zitat Ringel­natz: “Wenn ich so reich wäre und so mäch­tig, dass ich alles ändern könnte — dann ließe ich alles so, wie es ist”. 1935.
1945 hätte er das viel­leicht nicht gesagt. Die Größe des Leidens erleich­tert die Erkennt­nis nicht. Ehrfurcht und Erge­ben­heit und Poli­tik. Ich weiß nicht, warum ich gedacht habe, in der Straße, die nach ihm heißt, könnte ich heraus­be­kom­men, was Tuchol­sky in seinen todtrau­ri­gen Endbrie­fen und Schluss­stü­cken gemeint hat, was er abstieß mit dem eige­nen Leben. Ein merk­wür­di­ger, schlim­mer: ein senti­men­ta­ler Irrtum.
“Schlum­mere du … ach, schlum­mere ein./ Und lass mich weinen…”
An der Orani­en­bur­ger Straße steige ich selber in den Unter­grund, hinun­ter.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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