Von Thule zu Stockholm

Ich will von der Thulestraße zur Stockholmer Straße wandern, vom sagenhaften zum heutigen Skandinavien; ich will vor allem dem großen nördlich bekannten Straßenzug auf den Charakter kommen, der als Wisbyer/Bornholmer/Osloer Straße an die Grenze zwischen Pankow und Prenzlauer Berg entlang nach Wedding läuft (und auch nach beiden Seiten noch weiter); einer der vielen Straßenzüge um Berlin: wirklich ein Verkehrsfluss, pausenlos Autos her und hin, in der Mitte lange Zeit die Tram auf zwei Schienensträngen, die Straßenseiten weit voneinander entfernt, wirklich keine Parkallee, sondern eine Stadtavenue, die zusammenhält, was zusammengehört.
Die unterschiedlichen Quartiere, Kieze, schließen sich rechts und links an sie an, unterscheiden sich und sind sich ähnlich. An der Station Schönhauser Allee steige ich aus der U2 heraus und herunter von der seit dem Auftauchen am Senefelderplatz, in eine Hochbahn verwandelten Metro. Auf halber Höhe beim Abstieg vom Bahnsteig auf die Geschäftsstraße gewähren drei breite Fenster einen Ausblick auf die Baustelle der Schönhauser-Allee-Arcaden, als seien sie für diesen Zweck angelegt. Unten Marktbuden, Wurst- und Grillhähnchenduft, vietnamesische Zigaretten; „Ein Schritt vom Wege“: das ist ein einst bekanntes Theaterstück des Kammergerichtsrates, der der Wichertstraße den Namen gegeben hat; „Das Kammergericht war immer literarisch“, hat Fontane in Bezug auf diesen Ernst Wichert gesagt, aber das gilt längst nicht mehr, ich kann es bezeugen, ich war lange Jahre selbst Kammergerichtsrat. Das Kammergericht hat die Westberliner Isolation nicht gut überstanden.
Es ist ein grauer Tag, die Menschen zeigen Unglücksmienen, „der Augenblick entscheidet“, sagt die Commerzbank, die lachende Werbebotschaft muntert mich auf.

Die Thulestraße liegt schon in Pankow. Ich betrachte das Haus, Ecke Kurze Straße, in dem vor Jahren das Bezirksjournal seinen Betrieb begonnen hat. Statt des Garagenhofes jetzt eine postmoderne Wohnanlage. Da habe ich selbst das Gefühl, dass ein Stück meiner Vergangenheit eingemauert und steinversiegelt sei. Die Gegend sieht viel aufstrebender auf als 1990, aber sie ist mir auch fremder. Hier Kräne, an der Greifenhagener Straße Kräne am Ende und am Anfang: Berlin, die bekrante Stadt, Kranopolis. Ich habe die Kräne gerne. Für mich sind es Zeichen der Lebendigkeit. Kino Nord; daneben: Piano Traum; die Straße hebt sich zur Wisbyer an und fällt ab zur Gethsemanekirche, die ich unten sehe, während ich in die Kuglerstraße nach Westen einbiege. Die Straße wirkt wie ein ruhiges, gut möbliertes Wohnzimmer am Flur, den die Schönhauser Allee bildet. Das Gemeindehaus der Paul-Gerhardt-Gemeinde neben dem Café der Heilsarmee, unrenovierte und schon erneuerte Fassaden; Nummer 26, 24 zum Beispiel: fast edel. Das prächtig geerkerte Eckhaus beherbergt den vielgegenwärtigen Optiker Ruhnke, die Fassade des renovierungsbedürftigen Nachbarhauses sieht aus wie ein Theatervorhang, der sich niedersenkt oder in einem Stück nach oben hebt, wie das Theatervorhänge vor der letzten Jahrhundertwende gerne getan haben. Als wir noch hier arbeiteten, war in dem Eckhaus Wisbyer/Schönhauser ein Ristorante, jetzt Humana Second Hand.
Im Westen hellt sich der Himmel auf, als ich nun in die Bornholmer Straße einbiege. Der Wind weht über mich hinweg, je tiefer ich in die Senke zur Bösebrücke hinab marschiere, erst kurz vor der Brücke wird der Weg sich wieder anheben. Die Schlachterei Mehlhorn bietet frische Eisbeine, „Wohnen in Prenzlberg im 2. Hof“ wirbt der Bornholmer Hof, neben denkmalgeschützter, aber verfallender Fassade, die auf blau umkachelten Säulen ruht. Diese südliche Straßenseite zeigt eine entwickeltere Vorgartenkultur als die nördliche; „Kultur“ ist vielleicht zuviel gesagt.

Die nach Süden anzweigende Driesener Straße lockt mich durch den angekündigten geschlossenen Kiezeindruck in sich hinein und dann in die Czarnikauer Straße, die an die skandinavische Magistrale ehemals preußische, jetzt polnische Orte anknüpfte. Da kamen viele Leute her, die hier in der Gegend Jahrhundert-Endnot durchzustehen hatten. Mit der Malmöer Straße fängt der Aufstieg zur Bösebrücke an. Aufstieg ist zuviel gesagt, nun ist schon zum zweiten Mal ein Wort zu dick und bedeutungsvoll. Ähnlich wie das Mauerstück, das als eine Art Denkmal vor der Brücke aufgestellt ist, an der zum „Top Auto Park“ verwandelten Stelle, wo die Grenzbaracken der DDR standen. „Berlin wird leben, und die Mauer wird fallen“, zitiert dieses Mauergedenkstück Willy Brandt; da hat er recht gehabt, der 9. November ist gerade gewesen, in der Nacht auf den 10. November 1989 gings hier rund, viele wollten auf die jeweils andere Seite, da standen sie dann und wunderten sich, wie ähnlich die Stadt sich selbst war. Am Fuße des Denkmäuerchens Wachsreste von Erinnerungskerzen, aber auch Scherben zerbrochener Schnapsflaschen. Auf der sich zu ihrer Mitte aufwölbenden Bösebrücke bleibe ich ein Weilchen stehen, um das heftige Zittern zu spüren, das das unaufhörliche Hin und Her der Autos verursacht. Das ist das Zittern der Zusammengehörigkeit.
Ich blicke nach Süden, nach Norden, über die Gleisanlagen, die die Bösebrücke mit ihrem eleganten Eisenbogen zusammenfasst. Die westliche beginnende Weddinger Seite wirkt landschaftlicher als die hiesige Prenzlberger. Das Prenzlberger Berlin ist älter als das Weddinger. Wedding ist charakterlich aus den 60er Jahren, Prenzlauer Berg ist aus dem [vor]vorigen Jahrhundert. Dass sie bis in die 50er Jahre eine gemeinsame Geschichte hatten, ist weniger gegenwärtig, als dass sie 40 Jahre lang in unterschiedlichen Schicksalen lebten.

Ich marschiere schnell in die Osloer Straße abwärts, über Wriezener, Biesenthaler und Gotenburger Straße in die Stockholmer Straße, wo ich von Hugo Härings baugeschichtlichen Wohnhäusern aus den 20er Jahren eigentlich keinen Gefühlsunterschied zwischen Prenzlauer Berg und Wedding mehr empfinde. Es waren also Grenzerinnerungen, die mich auf der Bösebrücke irritiert haben. Der Weg von der Thulestraße ist kein Weg vom Gestern ins Heute, es liegt kein Zeitenabfall zwischen diesen Straßen. „Der Traum der Kommune, der schlief nur und ist doch noch lange nicht tot“, steht an einem Haus in der Grüntaler Straße. Ich glaube, da irren sie sich. Die Nebel hängen hier so dicht über den Dächern, dass die Größe der in ihrem Anflug auf Tegel plötzlich sichtbar werdenden Flugzeuge fast erschreckt. Die Travemünder Straße führt die Stockholmer bis an die Badstraße fort, durch die elegant nach Norden sich auf- und abbiegende Badstraße komme ich zur U8. 15 Jahre sind die beiden Mädchen vielleicht alt, die mir in der U-Bahn gegenüber sitzen.
„Ich verstehe deine Logik nicht“, sagt die eine. „Du sollst nicht meine Logik verstehen, sondern mich“, sagt die andere und sagt damit, worum auch ich hier bitte.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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