Zum Petersburger Platz und um ihn herum

Tatsächlich: die Studentin sagte: „Ist Geschichte denn etwas anderes als Illustration des Lebens?“. Es war keine Feststellung, sondern wirklich eine ernsthafte Frage. Zuerst dachte ich: Diese Frage musst du zurückweisen; du musst darauf bestehen, dass das Leben eine Vergangenheit besitzt, damit es eine Zukunft hat. Von solchen Philosophismen hielt ich mich aber noch rechtzeitig zurück. Ein Freund der Geschichte bin ich auch nicht mehr. Dass man etwas aus der Geschichte lernen könnte… nein, da müsste man viel entschiedener geistig zu Werke gehen, als es die Menschen erträglich finden.
Aber ich beschäftigte mich mit dieser Frage der netten Studentin den ganzen Tag lang. Auch noch, als ich mit der U1 zum Kottbusser Tor, mit der U8 zum Alex, mit der U5 zur Petersburger Straße fuhr. Ich gehe die Petersburger Straße aufwärts, auf den Bersarinplatz zu. Ich habe den Platz gern. Seine Lage am Hang der Stadt gefällt mir. Mir gefällt auch, dass am alten Friedrichshainer Rathaus, gerade neben dem aktuellen Amtsschild, auch Bersarins gedacht wird und der „ruhmreichen Sowjetarmee“.
Hoffentlich kommt hier niemand von denen vorbei, die die Geschichte um das Gedächtnis bereinigen wollen. Geschichte ist, was in der Gegenwart für passend gefunden wird, dass es Gegenwart gewesen wäre. Geschichte ist eine Art Denkmalkunde… Nein, nein: sicher bin ich mir nicht, ob ich das glaube.

Wo jetzt tritec seine Werkstatt hat, war ein Nazi-Ort. Keglerheim, Mörderkeller. Da waren schon Gedächtnistöter vorübergekommen, drei Jahre war die Gedenktafel fort, geklaut und wiedergefunden. In Friedrichshain waren viele braune Orte, auch viele rote. Die Unterschiede waren geringer als es uns scheint, wenn wir die Folgen gesehen haben. Das sind so Bemerkungen, die man besser an Stellen wie dieser nicht macht. Sie werden leicht missverstanden.
Ich stehe auf der Mitte des Petersburger Platzes, für mich: ein Friedrichshainer Lieblingsort, östlich die Matternstraße, wie ein dem Platz angeschlossenes Gästezimmer, westlich die Häuserfront, aus der die Pfingstkirche herausragt und nach oben zeigt.
Die Kirche ist eindrucksvoll. Erbaut 1906 bis 1908. Aber schon lange geschlossen. Gottesdienste hinten im Gemeindesaal, der auch ein Baudenkmal ist, das in den Büchern steht, aus einer anderen Zeit, als die Kirche selbst, Expressionismus, die Kirche aus einer Vorkriegszeit, 1927 bis 1929 gebaut. Walter Erdmann hieß der Architekt.
Der Hof zwischen Kirche und Gemeindehaus ist eindrucksvoll: Wenn der Petersburger Platz eine Wohnung wäre, dann wäre dieser Pfingstkirchenhof das ruhige Zimmer nach hinten hinaus. Die Pfingstkirche ist also Geschichte. Sie liegt unter der Gegenwart wie die Wurzeln eines großen, im Hof stehenden Baumes, die das Straßenpflaster von unten anheben, ohne es zu durchbrechen.

Neulich habe ich an dieser Stelle über die Samariterkirche geschrieben. Weit entfernt ist sie von der Pfingstkirche weder räumlich noch geschichtlich. Bei dieser Gelegenheit habe ich eine Bemerkung über die Kirche gemacht, die einem Pfarrer missfallen hat. Geschichtlich gesehen, dachte ich damals, hängt die Größe dieser Kirchen und ihre Häufigkeit mit der Größe und der Dichte der Probleme zusammen, die die Menschen hier hatten, als der König, der ansonsten nicht ihr König war, diese Kirchen unter sie setzte. Das preußische Staatskirchentum, dem wir diese mächtigen Gebäude – sollen wir wirklich sagen – verdanken, ist hin. Das Christentum ist eine minderheitliche Denk- und erst recht eine minderheitliche Lebensform in diesem Lande. Aber trotzdem hätte die Studentin von heute morgen hier, auf dem Petersburger Platz, wohl unrecht. Die Pfingstkirche ist etwas anderes als eine Illustration der Geschichte und der Gegenwart.

Der Petersburger Platz wäre nicht der Petersburger Platz ohne dieses mächtige, eindrucksvolle und traditionelle, zusammenhaltende Bauwerk. Es ist ein dialektischer Bau. Groß und nicht groß, rufend und schweigend. Ich kehre ein im Café Petersburg an der Straßmannstraße. Ein empfehlenswerter ruhiger Ort. Fast stilvoll, spiegelig und lüstrig im Strahlehimmel. „Rühreier natur“ bestelle ich, „naturell“ verbessert mich der Wirt, sich über die sprachliche Eleganz seiner Speisekarte leicht ironisch erhebend.
„Ich bin ja nicht einer von denen“, erzählt er dann am Nachbartisch, „der gern an Orte geht, wo er schon mal war. Mich zieht die Neugier immer weiter … Die Sehnsucht…“ Die Formulierung, habe ich den Eindruck, das Wort, das goethische Wort: Sehnsucht, verändert die Szene. Wünsche kommen auf. Träume. Die Gäste am Nachbartisch, denen der Wirt dieses Wort zugeworfen hat, schweigen auch plötzlich. Sie überlegen auch: wenn sie nicht hier säßen, wohin sollen sie? „So’n Wunsch brauchst du bloß mal im Reisebüro der Tante vorzutragen, da kannste mal sehen, wie schnell die anfängt zu blättern!“ Langsam, nein: ziemlich schnell, fällt die Dunkelheit ein, die Kirche verwandelt ihr dunkles Rathenower Rot immer mehr in ein ragendes Schwarz, sie zeigt nach oben, ohne Zweifel.
Der nördliche Teil der städtischen Parkanlage vor der Pfingstkirche ist ein Kinderspielplatz. Ich höre das Rufen der Kinder noch, sie sind nicht mehr zu sehen, von der blauschwarzen Dunkelheit des Abends schon eingehüllt. Sie liegen mir fern wie meine eigene Jugend. Ist meine Vergangenheit, ist also mein ganzes bisheriges Leben, eine Illustration meiner Gegenwart? Sehr intensiv ist meine Beziehung zu dem Menschen, der ich früher war, nicht mehr. Dass ich jetzt, im beginnenden Alter in einer Stadt lebe, die um so viel vollständiger ist als das Berlin, in dem ich die 30 Jahre zuvor verbrachte, gestattet es mir manchmal, mich als einen erneuerten Menschen anzusehen. Wenn es die Mauer bis zu meinem Lebensende gegeben hätte, hätte ich mein Leben in Westberlin beschlossen und hätte nicht das Gefühl gehabt, etwas zu vermissen. Ich hätte mich mit einem Teil zufriedengegeben, hätte nicht gewusst, dass es das Ganze gibt.

„Ach, wenn ich daran denke…“, sagt jetzt die Frau am Nachbartisch zu dem Wirt, und es klingt wie: Ein Glück, dass ich die Vergangenheit hinter mir habe. Die Vergangenheit ist keine Illustration der Gegenwart. Manchmal ist sie aber der Katalog der Irrtümer, an denen die Gegenwart zu tragen oder die sie – im besten Falle – einfach hinter sich hat. Ich gehe hinüber zur Straßenbahn, die mich aber nur bis zum Bersarinplatz bringt, ab dort Ersatzverkehr.
Die gehobene Petersburger-Platz-Stimmung wirkt noch nach in mir. In dem Wort: „Ersatzverkehr“ höre ich vorwiegend die Verheißung: Der Ersatzverkehr überbrückt eine Zeit, die vorübergehen wird; wenn sie vorbei ist, werden Veränderungen eingetreten sein. Veränderungen zum Besseren. Wenn man dann noch dieselben Beurteilungsmaßstäbe hat. Als es über die Warschauer und dann über die Oberbaumbrücke geht, kann ich nicht verstehen, dass es seinerzeit Menschen gegeben hat, die die Straßen an dieser Stelle gerne geschlossen gehalten hätten.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Angela M. Arnold (=44penguins), CC BY-SA 3.0

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