Die Kogge

Ich stand mit dem Taxi am Ostbahnhof. Erste Rücke vorn, mit Blick auf den ehemaligen Postpaketbahnhof. In den Neunzigern war ich ein paarmal da drin, als ich noch Kurierfahrer war. Es war schon spannend, eine ganz andere Bahnhofsatmosphäre, als man sie sonst als Fahrgast kennt.

Die Zeit wurde lang, kaum jemand wollte ein Taxi, diese Nacht würde sicher nicht zu meinen erfolgreichsten gehören.
Während ich in der Dunkelheit meine Gedanken und meinen Blick schweifen ließ, schaute ich auch in den Außenspiegel. Hinter mir eine Reihe weiterer Taxis, dann die Haltestelle, an der gerade ein Bus abfuhr. An dieser Stelle liegt der Scheitelpunkt der Straße, die am Ostbahnhof erst bergauf und ab der Mitte wieder hinunter führt. Wenn man ganz vorn steht, sieht man durch den Spiegel nicht, ob dahinter noch andere Taxis warten. Man  schaut nur in die leere, schlecht beleuchtete Straße, in die sich außer Taxis und Busse nicht viele Autos verirren. Manchmal aber, so wie diese Nacht, stutzt man schon.

Im Spiegel konnte ich sehen, wie sich aus dem Bahnhofsgebäude ein großer, dunkler Schatten quer über die Straße schob. Eigentlich war er viel zu hoch, um aus dem Bahnhof zu kommen. Genau auf dem Scheitelpunkt bewegte er sich im Schritttempo. Etwa auf der Mitte des Wegs erkannte ich ihn. Er hatte die Form eines alten Segelschiffs, einer Kogge aus dem Mittelalter, etwa zwei Stockwerke hoch.
Trotz der offensichtlichen Absurdität dieser Situation dachte ich erst nur: „Oh, die habe ich hier ja noch nie gesehen.“ Es ist schon merkwürdig, wie man total unrealistische Dinge manchmal wie selbstverständlich zu Kenntnis nimmt. Langsam wurde mir aber klar, dass das alles nicht sein kann. Mittlerweile hatte sie aber die Straße überquert und war nicht mehr zu sehen.
Es klopfte an mein Fenster, ein Kollege stand da: „Hast du das eben auch gesehen? Das war ein Geisterschiff, jetzt hat es sich aufgelöst.“ Er schaute ziemlich entsetzt, seit Blick sprang immer von mir nach hinten, wo eben noch das Schiff war, und wieder zurück zu mir. Im Gegensatz zu ihm war ich aber noch recht lässig und dachte nur, dass die Erklärung mit dem Geisterschiff wohl die wahrscheinlichste wäre.

Wieder klopfte es. Diesmal war es ein Fahrgast, der mich erstmal besorgt fragte, ob ich auch wach genug sei zum Fahren. Er meinte, ich hätte eben geschlafen.
Na klar bin ich wach! Ich stieg aus, packte sein Gepäck in den Kofferraum und warf dabei nochmal einen Blick nach hinten. Von der Kogge war nichts zu sehen. Offenbar war es wirklich ein Geisterschiff.

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5 Kommentare

  1. Ich glaube, ich weiß, was das war! Das sieht nämlich genauso aus wie das Schiff vom fliegenden Holländer aus der Spongebob-Serie. Das ist wirklich unglaublich, daß der jetzt schon in Berlin sein Unwesen treibt!

  2. Eigentlich verbietet mir ja mein Begreifen der Berufsethik von Euch Taxifahrern diesen Gedanken, aber ich frage mich wirklich, ob Ihr da nicht, um die dröge Wartezeit zu verkürzen, „vieleviele bunte Smarties“ genossen habt… ;-)

    Oder alternativ, ob das eine erfundene Geschichte war.

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