Keine Gewalt

Widerstand gegen Diktaturen kann viele Gesichter haben. Nachdem die russischen Kommunisten im vorigen Jahrhundert das Reich der Zaren zerschlugen, forderte der folgende Bürgerkrieg acht Millionen Opfer. Und auch Maos Revolution in China versank im Blut. Viele einstige Kolonien befreiten sich im 20. Jahrhundert von ihren Besatzern, meist mit Waffengewalt. Die neuen Herren waren oft grausamer als die gestürzten, das Leid in der Bevölkerung verlagerte sich nur von einer Gruppe in die andere. Nicht alle gewaltsamen Umstürze führten zu neuen Diktaturen, doch die Erfahrungen aus Asien, Afrika, Süd- und Mittelamerika zeigen, dass darauf oft neue Gewaltherrschaften entstanden.
Eines der großen Gegenbeispiele ist natürlich Indien. Dort gab es beides, den bewaffneten Kampf gegen die britische Besatzung, aber auch den gewaltfreien Widerstand von Mahatma Gandhi. Er war es letztlich, der mit seiner Strategie der Verweigerung das riesige Land erfolgreich befreite und daraus die größte Demokratie der Welt formte. Und trotz aller Widersprüche zwischen den indischen Volksgruppen, trotz verschiedenen Sprachen und Religionen, ist das Land bereits ein Menschenleben lang halbwegs demokratisch geblieben.

Anfang der 1990er Jahre sahen wir, wie kommunistische Staaten in Osteuropa kippten. Eine Regierung nach der anderen gab dem Druck der Bevölkerung nach, nur in wenigen Fällen kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Höhepunkte dieser Zeit waren die Großdemonstrationen von Leipzig und natürlich 1993 der Einsatz der Bürger gegen die russischen Putschisten. Tausende stellten sich in Moskau den Panzern entgegen, 190 von ihnen starben.
Und nun die arabischen Länder. Die Menschen in Tunesien und Ägypten machten den Anfang und auch sie riskierten ihr Leben. Zu oft hatte es vorher schon Massaker an der eigenen Bevölkerung gegeben, als dass sich die Menschen darauf verlassen konnten, dass es gut endet. Aber sie waren gewaltfrei und sie waren erfolgreich.
Natürlich kann man die Rechnung „gewaltfrei = erfolgreich“ nicht grundsätzlich aufmachen. Die Studenten von Peking wurden am 4. Juni 1989 hingemetzelt, vermutlich fanden einige tausend den Tod. Auch sie hatten keine Gewalt angewandt, sie kampierten auf dem Platz des himmlischen Friedens und wurden ermordet. Es gibt dutzende Beispiele von gescheiterten friedlichen Umsturzversuchen.

Gewaltsame Umstürze jedoch bergen den Keim der Gewalt schon in sich. Selbst wenn sie erfolgreich sind, bauen sie doch auf Gewalt auf. Die Schmach der militärischen Niederlage werden die Anhänger der alten Regierung nicht vergessen. Und doch sind sie ja Teil des Volkes, der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft ist ohne sie normalerweise nicht möglich. Wenn die Demokraten ihren Sieg mit Waffengewalt erkämpfen, wie wollen sie dann noch Brücken bauen, um die verfeindeten Teile der Bevölkerung an einen Tisch zu bringen? In Nicaragua wurde es versucht, die Sandinisten stellten sich einige Jahre nach ihrem Sieg sogar einer freien Wahl und gewannen. Dass die Revolution dort trotzdem zu Ende ging, lag an der Korruption und – mehr noch – daran, dass die rechte Opposition von den USA bewaffnet wurde und einen Bürgerkrieg begann, der das kleine Land förmlich ausbluten ließ.

Es ist schwierig, angesichts der Gewalt von Polizei und Armee nicht das gleiche Mittel zu wählen. Zu naheliegend ist es, sich zu bewaffnen und zurückzuschießen. Oder nachts loszuziehen und Bomben zu legen. Damit aber gibt die Opposition meist ihren größten Pfand her, nämlich die moralische Überlegenheit. Klar, was nützt die Moral, wenn man sich dafür nicht wehren kann? Und doch ist diese Lösung nur eine scheinbare. Die Erfahrungen von Jahrzehnten voller Kämpfe gegen Kolonialismus und Unterdrückung zeigen nur wenige Beispiele gewaltsamer Umstürze, auf die dann ein System folgte, das auf die Werte von Gleichberechtigung und Demokratie aufbaute.
Wie ein demokratischer Staat entstehen kann, selbst wenn die Bevölkerung zutiefst zerstritten ist, zeigt das Beispiel von Südafrika. Es ist das Verdienst Nelson Mandelas, dass er das Land nicht in einen Bürgerkrieg manovriert hat, sondern in eine Demokratie. Mit den Wahrheitskommissionen hat er den einstigen Verfechtern der Apartheid die Tür zu einer gemeinsamen Zukunft in Südafrika geöffnet. Mit Erfolg.

Trotz allem will ich die Gewaltfreiheit in der politischen Auseinandersetzung nicht glorifizieren. Sie ist kein Dogma, das immer und überall angewandt werden muss. Sicher gibt es Situationen, in denen man sich notfalls auch bewaffnet zur Wehr setzen muss.
Mir geht es aber um die Gewalt als strategisches Mittel, um gegen den politischen Gegner zu kämpfen, aber auch um ein undemokratisches System zu stürzen. Und in diesem Zusammenhang sehe ist keine Alternative dazu, als mit friedlichen Mitteln zu agieren. Wer eine Gesellschaft ohne Gewalt und Unterdrückung will, kann diese nicht mit eben diesen Mitteln erreichen.
Um eine menschliche Gesellschaft aufzubauen, muss man hohe moralische Werte haben. Wer vom friedlichen Zusammenleben spricht und dabei das Blut seiner Gegner trinkt, dem wird man kaum Glauben schenken.

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