Ertrunkene Hoffnung

Obwohl noch heute fast täglich afri­ka­ni­sche Flücht­linge auf dem Weg nach Europa ums Leben kommen, ist es kaum noch ein Thema. Zu alltäg­lich sind die Bilder bereits, als dass sie noch zu einer Nach­richt taugen. Nur wenn mal ein Schiff mit 100 Menschen vor Lampe­dusa sinkt, wird noch darüber berich­tet.
Was die betref­fen­den Menschen zur Flucht treibt, der Krieg, der Hunger und die Hoff­nungs­lo­sig­keit in ihrer Heimat, das inter­es­siert hier bei uns kaum jeman­den. Statt­des­sen werden die Gren­zen geschlos­sen, es könnte ja sein, dass es einige der Hilfe­su­chen­den bis nach Nord­eu­ropa schaf­fen. Dabei geht es um wenige Tausend Flücht­linge, die in die Euro­päi­sche Union flie­hen. Hier, wo der “christ­li­che Kultur­kreis” so hoch­ge­hal­ten und gegen den “bösen” Islam vertei­digt wird. Dabei ist es das mosle­mi­sche Tune­sien, das bisher etwa 500.000 Flücht­linge aus Libyen aufge­nom­men hat, obwohl es so viel ärmer ist als Euopa. Doch das inter­es­siert hier nicht.
Ich sehe die Film­auf­nah­men, Fotos und Berichte von Afri­ka­nern, die ihr Leben riskie­ren, und mit völlig unbrauch­ba­ren Kuttern über’s Mittel­meer kommen. Und ich kann von hier aus nichts tun.

Das alles erin­nert mich an die Zeit um 1994. Damals war die deut­sche Grenze zu Polen noch Außen­grenze der Schen­gen­staa­ten, also der östli­che Rand der EU. Flücht­linge wurden verächt­lich Asylan­ten genannt. Es waren viele Tami­len aus Sri Lanka, aber auch Paläs­ti­nen­ser, Paki­stani, auch Rumä­nen. Sie hatten Angst um ihr Leben und haben deshalb ihre Heimat verlas­sen. Allein solch ein Schritt ist schon tragisch, jeder der dage­gen pole­mi­siert sollte sich vorstel­len wie es ist, wenn man selber dazu gezwun­gen wäre.

Sie schaff­ten es durch Osteu­ropa, Ukraine, Polen, bis an die Neiße. Hier im Süden Bran­den­burgs, rund um die Grenz­städte Forst und Guben, führt der Fluss meist nicht so viel Wasser, bei gutem Wetter konnte man so von Polen aus durch die Neiße nach Deutsch­land waten – und damit in die EU. Entspre­chend hart waren auch die Kontrol­len, der dama­lige Bundes­grenz­schutz (BGS, heute Bundes­po­li­zei) war Tag und Nacht auf der Suche. Viele wurden erwischt, sei es durch die Poli­zei oder aber über­eif­rige Bürger, die eben­falls auf die Jagd gingen, mit Hunden, Funk­ge­rä­ten und Knüp­peln.

Manch ein Flücht­ling aber schaffte es nicht durch den Fluss. Nach star­kem Regen oder der Schnee­schmelze steigt der Pegel der Neiße stark an, sie kann schnell tödlich werden. Damals erwischte es Dutzende von Menschen, allein am 4. Septem­ber 1994 kamen mindes­tens 14 Tami­len ums Leben. Immer wieder wurden Leichen ans Ufer gespült. Und so wie heute gab es auch damals soge­nannte Flucht­hel­fer, die den Menschen viel Geld abnah­men, um sie ans Ziel zu brin­gen. Doch wenn es schwie­rig wurde, verschwan­den sie und ließen die Flücht­linge im Stich. So war es oft auch an der Neiße.

Aber es gab auch andere. Ich gehörte damals zu einer Gruppe, die es nicht zulas­sen wollte, dass Menschen nahe unse­rer Stadt auf der Flucht ster­ben. Wir woll­ten, dass sie die Chance zu einem besse­ren Leben krie­gen. Oder wenigs­tens, dass sie über­le­ben.
Neben viel poli­ti­scher Arbeit, in der Öffent­lich­keit, mit Bera­tung und in irgend­wel­chen Gremien gehörte auch die prak­ti­sche Hilfe vor Ort dazu. In manchen Näch­ten sind wir nach Forst gefah­ren, ein paar gingen mit Funk­ge­rä­ten über die Grenze. Es gab Kontakte zu Grup­pen von Flücht­lin­gen, die dann bis zum Fluss beglei­tet wurden. Gleich­zei­tig behiel­ten die Leute am deut­schen Ufer den BGS im Auge. Die Strei­fen muss­ten weit genug weg sein und auch die gehei­men Unter­stände durf­ten nicht besetzt sein, in denen sie oft mit Nacht­sicht­ge­rä­ten saßen, stun­den­lang, um das Ufer zu beob­ach­ten. Auch auf der polni­schen Seite gab es Patrouil­len, doch das größere Problem war der BGS. Zusätz­lich bilde­ten sich “Bürger­weh­ren”, die einen direk­ten Draht zum Grenz­kom­mando hatten und die uns eben­falls in die Quere kommen konn­ten.

Wenn ein Abschnitt sicher war, liefen mehrere Aktio­nen gleich­zei­tig. Die Flücht­linge wurden zum Ufer geführt. Auf der deut­schen Seite wurden Schlauch­boote aufge­pumpt, zu Wasser gelas­sen und ans östli­che Ufer gezo­gen. Wenn genü­gend Helfer da waren, konn­ten auch die Zufahrts­stra­ßen beob­ach­tet werden.
Nach­dem die Flücht­linge mit den Booten auf die deut­sche Seite gezo­gen worden sind, wurden sie in Autos gesetzt und wegge­fah­ren. Sie kamen erst­mal mindes­tens 10 Kilo­me­ter weit ins Landes­in­nere, wo die Gefahr der Entde­ckung nicht so hoch war. Dort über­nah­men andere Helfer sie und brach­ten sie nach Berlin. In der Zwischen­zeit muss­ten die Boote entleert und zusam­men­ge­fal­tet werden, so dass sie einge­packt und wieder wegge­fah­ren werden konn­ten.
Doch es ging nicht immer so glatt. Wenn plötz­lich der Grenz­schutz auftauchte oder die Bürger­wehr rund um Bade­meu­sel oder Bries­nig auf Menschen­jagd ging, wurde es gefähr­lich. Zwar kam es nie zu einer direk­ten Ausein­an­der­set­zung mit denen, aber der Poli­zei gelang es mehr­mals, uns zu orten. Einige Male wurden wir auch kontrol­liert, doch obwohl beide Seiten genau wuss­ten, weshalb wir dort waren, konnte uns der BGS keine Straf­tat nach­wei­sen. Und: In der ganzen Zeit haben sie keinen einzi­gen “unse­rer” Flücht­linge erwischt!

Zwar war ein Teil der Bevöl­ke­rung uns gegen­über ableh­nend einge­stellt, aber es gab auch andere. Zum Glück! Ein paar Häuser und Wohnun­gen stan­den uns für Notfälle zur Verfü­gung. Die Bewoh­ner woll­ten uns bzw. die Flücht­linge unter­stüt­zen, weil sie es unge­recht fanden, wie mit Ihnen umge­gan­gen wurde. Mit ihrer Mensch­lich­keit gingen sie dabei selbst ein großes Risiko ein.
Eines Nachts waren wir vom BGS umstellt, sie stan­den auf allen Zufahrts­stra­ßen des Dorfes. Wir wuss­ten von einem Unter­stüt­zer dort und klin­gel­ten ihn aus dem Bett. Alle vier oder fünf Flücht­linge wurden aufge­nom­men, das Haus verdun­kelt und erst einein­halb Tage später wurden sie nach Berlin gebracht. Denn so lange stand eine Poli­zei­streife mitten im Ort und wartete. Wir dage­gen fuhren mit ange­schal­te­tem Heili­gen­schein direkt in die Kontrolle. In dieser Nacht hatte die Poli­zei uns schon mehrere Stun­den gejagt und war entspre­chend wütend. Aus Rache zerschlu­gen sie die Schein­wer­fer und mehrere Schei­ben unse­rer Autos. Als wir protes­tier­ten, knüp­pel­ten sie auf uns ein. Trotz­dem waren wir froh, dass sie die ande­ren nicht erwischt haben und dass wir stark geblie­ben waren.

Das alles ist ewig her und längst verjährt. Noch heute habe ich manche Bilder vor Augen. Von den einge­schüch­ter­ten Flücht­lin­gen, die schon wochen­lang unter­wegs und völlig entkräf­tet waren. Von den hass­erfüll­ten Gesich­tern der Poli­zis­ten. Von den Fotos der toten Tami­len, die Freunde von mir noch gemacht haben, bevor die Leichen abtrans­por­tiert wurden. Und dann sehe ich jetzt die glei­chen Bilder im Fern­se­hen, wieder die Verzweif­lung der Flücht­linge, die Igno­ranz der Bürger. Und wieder habe ich die selbe Wut wie damals. Nur dass ich jetzt viel zu weit weg bin, um helfen zu können.

11. März 1994
In der Nähe der säch­si­schen Ortschaft Zittau wird ein unbe­kann­ter männ­li­cher Flücht­ling tot aus der Neiße gebor­gen. Er ist ertrun­ken.
22. März 1994
Ein männ­li­cher Flücht­ling wird in der Nähe der bran­den­bur­gi­schen Stadt Guben gefun­den. Er ist beim Grenz­über­tritt in der Neiße ertrun­ken.
25. April 1994
Eine Rumä­nin wird in der Nähe der säch­si­schen Ortschaft Rothen­burg tot aus der Neiße gebor­gen. Ihr Ehemann und ihr Kind erreich­ten das deut­sche Ufer lebend.
24. Mai 1994
In der Nähe von Görlitz im Bundes­land Sach­sen wird ein unbe­kann­ter männ­li­cher Flücht­ling aus der Neiße gebor­gen. Er ist ertrun­ken.
22. August 1994
In der Nähe von Guben in Bran­den­burg wird ein unbe­kann­ter männ­li­cher Flücht­ling tot aus der Neiße gebor­gen.
25. August 1994
Ein alge­ri­scher Flücht­ling wird in der Nähe der bran­den­bur­gi­schen Stadt Guben aus dem Wasser der Neiße gezo­gen. Er ist ertrun­ken.
30. August 1994
Ein Mann aus Nepal ertrinkt beim versuch­ten Grenz­über­tritt in der Neiße. Am 30. August treibt sein Körper bei Forst / Bade­meu­sel nahe der deutsch-polni­schen Grenze ans Ufer.
4. Septem­ber 1994
Sechs Flücht­linge aus Sri Lanka werden in der Nähe von Zasieki an der deutsch-polni­schen Grenze tot aus der Neiße gezo­gen.
6. Okto­ber 1994
Die Leiche eines ertrun­ke­nen Mannes aus Sri Lanka wird in der Nähe der bran­den­bur­gi­schen Ortschaft Groß-Gast­rose aus der Neiße gebor­gen.
19. Novem­ber 1994
Ein Flücht­ling aus Sri Lanka wird in der Nähe von Forst tot aus der Neiße gebor­gen.
28. Novem­ber 1994
Ein Mann aus Sri Lanka wird in der Nähe der bran­den­bur­gi­schen Ortschaft Forst tot aus der Neiße gebor­gen.
Juni 1995
Es wird die Leiche der Rumä­nin Rostas aus der Neiße gebor­gen.
17. Dezem­ber 1995
Die Leiche des 24-jähri­gen Paki­stani Naeen Akram wird in der Nähe von Bahren-Zelz im Spree-Neiße-Kreis aus der Neiße gebor­gen. Der Tote soll bereits Ende Okto­ber mit einer Gruppe von insge­samt 17 Paki­stani versucht haben, den Grenz­fluß zu über­que­ren. Dabei, so die Cott­bus­ser Staats­an­walt­schaft, sollen vier weitere Flücht­linge ertrun­ken sein.

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1 Kommentar

  1. Ein dickes Danke an euch Akti­vis­ten nahe der Grenze!
    Ich bereue es ehrlich und aufrich­tig, dass ich derar­ti­ges nie leis­ten konnte.

    Kein Mensch ist ille­gal!

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