Generalinstandsetzung

Wo fängt der Weg nach Köpenick an? Wo er eben anfängt. Das Problem – Problem? – ist nicht sein Beginn, sondern der Weg selbst. Die Tageszeit bestimmt, wie schnell man aus Berlin nach Köpenick kommt und wieder zurück. „Köpenick ist wie Spandau“, sagt Mehdi, der mich manchmal fährt und heute wieder. „Das sind Städte für sich. Und die Straßen halten sie deswegen so eng, weil sie nicht von den Berlinern überschwemmt werden wollen.“ Das sagt man so, und meint es nicht ernst, aber ein bisschen ernst meint man es doch.
In einer kritischen Distanz zu Berlin zu leben, vielleicht ist das ganz gut, denke ich. Ich denke es so vor mich hin, ich denke nicht darüber nach. In Wirklichkeit gibt es keinen Weg nach Köpenick. Zwischen Berlin und Köpenick liegt nirgends nur Landschaft, sondern immer Berlin. Trotzdem denke ich: Der Weg nach Köpenick fängt am Ostkreuz an. Jedenfalls fängt er hinterm Ostkreuz an.
„Ostkreuz, Kreuz des Ostens, das klingt nach Firmament und Himmelszeichen“, sagt meine Freundin Elke, die selten in Berlin ist. Heute begleitet sie mich, Fontane fuhr im Omnibus nach Köpenick, das hieß: im Pferdewagen. Die Eichen und Birken, die eingesprengt im Tannicht stehn, lassen die Landschaft in allen Farben schillern und der herbe Duft des Eichenlaubs dringt bis zu uns in den Wagen hinein. Jetzt aber trifft uns ein Luftzug mit jener feuchten Kühle, die dem Reisenden ein Wasser ankündigt.
Wir sitzen in einem Ford, der uns an diesem kühlen Märztag angenehm die Hintern wärmt. Kein Geruch nach frischem Wasser, leichte Musik über weiße Strände und blaues Meer. In der Nacht habe ich geträumt, dass ich einen Schlaganfall habe. Ein Alarmzeichen, sagt Elke, deren Haare ich vom südländischen Schwarz ins lebenskluge Grau sich habe verändern sehen. Links die Wuhlheide, auf dem Mittelstreifen blühen die Krokusse gelb, später weiß und im klassischen Krokus-Violett.
„Links ruhen Rathenaus“, sage ich. Elke hätte gedacht, sagt sie, die gehörten in den Grunewald. Aber nein: das hier ist ein passender Platz für die Industriellen. Die Gräber halten länger als die Werke.
Das Lokal rechts nennt sich „Mittelpunkt der Erde“. Es folgen frische Eigentumswohnungen. Elke erzählt, dass sie sich eine Villa im Kadettenweg kaufen will. „Das ist Lichterfelde“, sage ich. Indem sie „ja“ sagt, scheint sie zu sagen: Villengegend ist Villengegend. Das ist Gartenstadt-Denken: Wohnung am Kurfürstendamm mit Blick auf die Nordsee und auf die Alpen. Etwas von dieser Unmöglichkeit hat Köpenick. Das könnte man sagen. Aber das wäre dann feuilletonistisches Denken.
Links sehen wir nun die Faust von Köpenick: Das Denkmal von Walter Sutkowski, das unklare Geschichten erzählt über eine Köpenicker Geschichte, die eine deutsche Geschichte ist und aus der wir nach wie vor nichts lernen wollen.

Zur Dammbrücke schwingt sich die Lindenstraße ein bisschen auf, so dass links die Cöpenicker Bank und rechts die Laurentius-Kirche als Torhäuser zur Stadt fast wie ein Kommentar wirken: Bank und Kirche, Geld und Gott, die Bank wird mehr Kunden haben.
Dann kommt bald das Rathaus des Hauptmanns, da sieht man am Straßenende, hinter dem unregelmäßigen, ziemlich geräumigen Platz schon den Eingang zum Schloss. Das ist unser Ziel. Gleich läuft uns einer, der vor dem Rathaus in kunstgewerblicher Bronze steht, leibhaftig über den Weg. Hauptmann-vom-Köpenick-Spielerei, Komödien aus der Geschichte machen, damit wir ja keine Konsequenzen aus ihr ziehen müssen. Die Geschichte als Doktor, Touristenattraktion.
Über den Schlosshof bläst ein heftiger Wind. „Das Kunstgewerbemuseum bleibt bis auf weiteres geschlossen“. Das wussten wir natürlich vorher. Mir ist gerade deshalb der Platz einen Weg wert. „Bis auf weiteres“ – das hat schon sprachlich etwas von: Nie mehr.
Die weißen Bänke auf der Balustrade vorm Park stehen hinter Bauzäunen. Container von Walter Bau stapeln sich. Der Park ist eine geräumige Wiese. Die Gärtner geben sich gebückte Mühe.

„Guck mal: die Krokusse wachsen im Kreis“, ruft Elke. „Wie machen sie das?“ Nachdem die Menschen die Natur in ein Passiv verwandelt haben, tun sie so, als ließe sie sich dennoch als Aktiv behandeln. Die Geschwister versuchen auf einer Schildkröte zu reiten: Die Plastik, heißt es, ist von bösartiger Patina befallen. Das Schloss sieht selbst wie eine Schildkröte aus mit dem halslosen Mittelrisaliten und den ihn überragenden Seitenflügeln, die nichts Luftiges haben. Ein Kunstgewerbemuseum passt hier nicht her. Schreibzeug Karls V. – was soll das hier, Goldschmuck der Kaiserin Gisela, Rollschreibtische von Feuerstein aus Paris – wieso in Köpenick in einem Hohenzollernschloss?
Jetzt ist ja alles fort, an den künstlichen Ort gebracht, der sich Kulturforum nennt, Touristenhappening: Elke hat dieses letzte Wort nicht verstanden, denn in diesem Augenblick führt der Wind ein stürmisches Weh-Stück auf, die Bäume brausen.
„Sanssouci ist das nicht“, sagt Elke. An diesem unspazierlichen Donnerstag, zwischen den Regenschauern, ist es hier besonders schön.
Aber vielleicht kommt dieses Gefühl mehr von Elke als vom Schloss. Je näher wir zu der Spitze der Schlossinsel gelangen, umso mehr erhebt sich das Schloss aus der Erde: Die Schildkröte stelle sich auf die Beine und sieht jetzt wie ein freundlicher Drache aus.
„Die Bänke mit diesem geschwungenen See-Palmen-Muster sind wirklich sehr schön“, sagt Elke, „solche kaufe ich mir auch für meine Villa in Lichterfelde.“ Die Gärtnerinnen harken das Laub von der Wiese. Am Parkende, dicht am Wasser, sind zwei Bänke besonders aussichtsreich platziert. Wenn die Sonne schiene, setzten wir uns und erzählten uns das „Weißt-Du-noch“.
Das Efeu erstickt die Bäume, die aber vielleicht sowieso schon tot sind. Die Möwen schreien. Ich liebe die Möwen. Sie machen mir jedes Wasser zur See.

Als wir uns auf dem Rückweg umwenden, sehen wir das Rathaus so daliegen, dass wir ihm den ganzen Park zuordnen und das Schloss überhaupt vergessen können.
Ich bin kein Freund von Schlössern. Sie verstellen die Geschichte. Selbst Großmeister Fontane bringt über Schloss Köpenick nur Geschichten aufs Tapet. Nur eine von ihnen hat vielleicht geschichtlichen Rang, die Kriegsgerichtsgeschichte, der Freund des Prinzen wird nicht dazu verurteilt, aber vom König doch geköpft, ermordet also.
Unter Stahlhelm, Lorbeerzweig und Dolch steht auf dem Findling hier: „Zum ehrenden Gedenken an die im Weltkrieg 1914-1918 für das Vaterland gefallenen Seminaristen und ehemaligen Schülern des Lehrerseminars in Cöpenick“. Wo ist hier das Mahnmal, auf dem geschrieben steht: „Zur dauernden Schande für die Lehrer und Eltern, die ihren Schülern und Kindern befahlen, andere Schüler und Kindern zu töten und sich selber töten zu lassen, 1914-1918, 1933-1945 und immer noch“?
„Ärgere dich nicht und übertreibe nicht“, sagt Elke, bevor wir uns unter der knorrigen Platane Nr. 55 in einer heftigen Sturmböe zum Gurren der Tauben und zum Zilpen der Zeisige küssen.
Nein, nein: zum öffentlichen Küssen sind wir zu alt. Schlösser kann man generalinstandsetzen. Menschen verfallen. Die Zeit geht über sie hinweg.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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