Mitte, von Süd nach Nord

[In diesem Text ist mehr­mals vom “ersten Bezirk” die Rede. Als Diet­her Huhn diesen Spazier­gang nieder­schrieb, sah die Planung der Bezirks­re­form vor, dass die neuen Groß­be­zirke durch­num­me­riert werden soll­ten. Mitte wäre dann der “1. Bezirk” gewor­den.]
Dieser Spazier­gang ist ein Erkun­dungs­gang. Ich will mir eine Vorstel­lung davon verschaf­fen, wie der neue, bisher frei­lich nur geplante Bezirk aus Tier­gar­ten, Mitte und Wedding, der erste Bezirk, sich anfühlt: wie ein Berli­ner ihn empfin­det.
Dafür reicht ein Vormit­tag natür­lich nicht. Aber an diesem regne­ri­schen Montag, an dem schließ­lich der Regen so fällt wie in Irland: sanft und seidig, beginne ich mit dieser Erkun­dung. Der Anfang ist recht nahe bei der Redak­tion des Bezirks­jour­nals, die aller­dings in Kreuz­berg liegt, aber noch so am Rande, dass es bis zum Gleis­drei­eck nicht weit ist, dort, wo aus dem U‑Bahnhof nur eine kurze Stre­cke zu Fuß zurück­zu­le­gen ist bis zum Über­gang der Kurfürs­ten- in die Denne­witz­straße: Dort unge­fähr ist der Südpol, der südlichste Punkt dieses ausge­dehn­ten ersten Bezir­kes.
Ich blicke um mich, hier kenne ich die Gegend gut. Wenn man nicht auf die Karte sieht, weiß man nicht, ob man in Schö­ne­berg, Kreuz­berg oder Tier­gar­ten ist. Ich bin in Berlin, mitten­drin im Berlin von James Hobrecht, der 1862 die Flucht­li­nien zeich­nete und der Stadt befahl, so zu wach­sen, wie er es bestimmt hatte; außer der Eisen­bahn, die die Stra­ßen zerschnitt und andere unmög­lich machte, hielt sie sich daran.
U2 bis Pots­da­mer Platz und über­ge­wech­selt in die S1, die — eine wirk­li­che Stadt­bahn — Wann­see und Orani­en­burg verbin­det, die exklu­sive Villen­ko­lo­nie mit dem Stand­ort des furcht­ba­ren KZ: Das liegt eben in Berlin keines­wegs weit vonein­an­der entfernt und hat schließ­lich mehr mitein­an­der zu tun, als dieje­ni­gen meinen, die die Entfer­nung auf der Land­karte messen.

Bis zur Station Born­hol­mer Straße, an der ich aussteige, verläuft diese S‑Bahn unter und über der Erde durch den ersten Bezirk: Wo sie in den Unter­grund hinab­saust, ist das Grab der Gebrü­der Grimm nicht weit, und wo sie wieder herauf­kommt das Theo­dor Fonta­nes: Von Grimm bis Fontane — dazwi­schen liegt manche vergeb­li­che deut­sche Hoff­nung; der große Schrift­stel­ler, der fast im Wedding ruht, ist selten nach Wedding gekom­men; als er starb, stellte er dem deut­schen Reich eine resi­gnierte Prognose. Was wäre das für ein Roman gewor­den, denke ich auf der Böse­brü­cke stehend, wenn Fontane über Weddin­ger Leute geschrie­ben hätte und nicht über Kommer­zi­en­räte und Adlige.
Eine Zeit­lang verweile ich auf der Böse­brü­cke, die man in Mauer­zei­ten von Weddin­ger Seite aus gerne Born­hol­mer Brücke nannte, nicht nach dem kommu­nis­ti­schen Anti­fa­schis­ten, nach dem sie seit 1948 heißt, vorher Hinden­burg-Brücke, nach jedem Hinden­burg, der, als diese Brücke gebaut wurde, deut­sche Männer eilfer­tig in den Tod führte und dann Reichs­prä­si­dent einer Demo­kra­tie wurde, die wenig Zutrauen zu sich selbst hatte.
Ich blicke von Norden und Süden über die Bahn­an­la­gen und genieße den Verkehr, der von Prenz­lauer Berg nach Wedding, von Wedding nach Prenz­lauer Berg über die Brücke führt, Auto an Auto, keine Erin­ne­rung mehr an die dunk­len Zeiten, zu denen auf der Brücke des Anti­fa­schis­ten eine Gesin­nung die Stadt vermau­ert hatte, die den Gegnern ihrer angeb­li­chen Helden näher stand als denen, derer sie sich berühmte. Das sage ich heute. Früher habe ich mich manch­mal an Illu­sio­nen fest­ge­hal­ten, die unbe­dingt ein besse­res Deutsch­land erken­nen woll­ten.

Mit solchen Gedan­ken wandere ich durch die sich erwei­ternde Grün­ta­ler Straße, durch die Soldi­ner und Frei­en­wal­der Straße auf die Park­al­lee zu, die sich dort birken­be­stan­den über den Fried­hof erstreckt, Sophien- rechts, Elisa­beth- links: Wirk­lich ein Stadt­park, der sich von der Wollank­straße in den S‑Bahnbogen hinein­zieht, so dass die Quer­ge­bäude der sich elegant nach Westen schwin­gen­den Stee­ger­straße land­schaft­li­che Blicke eröff­nen über die Felder der Toten.
Von der ande­ren Seite senken sich die Schre­ber­gär­ten von der S‑Bahn-Böschung fast bis auf die Bürger­steige der Stee­ger­straße herab, dass die Straße einen abge­schlos­se­nen, fast inter­nen Charak­ter gewinnt. Auch auf der Pankower Seite der S‑Bahn liegen Gärten, Kolo­nien im S‑Bahn-Drei­eck, das dort S1, S8 und S10 mitein­an­der und mit der zacki­gen Breh­me­st­raße bilden.
Mauer­ein­rich­tun­gen muss man hier suchen. Erst recht oben, an der S‑Bahn-Station Wollank­straße, sieht man, dass schnell wieder zusam­men­ge­wach­sen ist, was zusam­men­ge­hört, und zunächst leuch­tet es wenig ein, dass — wo so viele Bezirks­gren­zen fallen — zwischen Wedding und Pankow weiter Grenze sein soll. Aber irgendwo muss der Mittel- und Zentral­be­zirk ja zu Ende sein. Hier oben ist man zwar mitten in einem lebhaf­ten Stadt­quar­tier, aber einen Berlin-Mitte-Eindruck habe ich nicht.
Ande­rer­seits denke ich: Den ersten Bezirk mit ordent­li­chen Gebie­ten voller Alltags­ge­schichte zu erfül­len, nicht nur mit Gebie­ten, in denen 1848 die Barri­ka­den stan­den, sondern auch mit solchen, in denen man mitten in der Demo­kra­tie Barri­ka­den gegen den Staat baute, das macht sich gut. Wedding fügt einem Berli­ner Zentral­be­zirk von der Berli­ner Mehr­heits­ge­schichte manches hinzu, was man in Mitte und Tier­gar­ten allein nicht in hinrei­chen­der Menge findet. Die Mitte von Berlin ist Arbei­ter­kul­tur. Das möchte ich viel­leicht gerne sagen, aber ich weiß nicht, ob da nicht der ideo­lo­gi­sche Wunsch Vater der geschicht­li­chen Erkennt­nis ist.

Ich gehe jetzt die Nord­bahn­straße hinter dem frie­sen­blauen S‑Bahnhof Wollank­straße entlang über die Wilhelm-Kuhr-Straße, die nach einem längst verges­se­nen Pankower Bürger­meis­ter heißt, bis zur Hugo-Heimann-Brücke.
Diese Brücke über die Panke — auch nach einem Anti­fa­schis­ten benannt, aber einem sozi­al­de­mo­kra­ti­schen — führt mich an den Punkt, wo Reini­cken­dorf, Wedding und Pankow zusam­men­sto­ßen. Und hier — viel­leicht gerade auf den trägen Wassern der kana­li­sier­ten Panke — wird der nörd­lichste Punkt des ersten Berli­ner Bezir­kes liegen.
Wedding sieht hier aus wie Reini­cken­dorf, das bald an verlän­ger­ter Kolo­nie- und Kühne­mann­straße beginnt: vorstäd­ti­sches Gebiet, städ­ti­sche Misch­land­schaft. Aber die S‑Bahn ist immer noch dieselbe wie die, die ich am südlichs­ten Punkt des Neube­zir­kes habe vorüber­fah­ren sehen. Die S1 wird das Rück­grad dieses ersten Berli­ner Bezir­kes sein. Sie nimmt vom Süd- zum Nord­pol dieses Bezir­kes einen ziem­lich direk­ten Weg.

Auf der Rück­fahrt von der Wollank­straße beschäf­tige ich mich mit meinen alten Gedan­ken, aus dem zentra­len Berli­ner Bezirk eine eigene Bundes­stadt zu machen, außer­halb der Stadt Berlin einen Regie­rungs­be­zirk, dessen Bürger­meis­ter kraft Amtes der Bundes­kanz­ler, sagen wir: der Kanz­ler­amts­mi­nis­ter ist (und der eine eigene Gemeinde darstellt neben der Stadt Berlin im Land Berlin).
Als ich am Anhal­ter Bahn­hof aussteige, bin ich aus diesem Bezirk knapp wieder drau­ßen, blicke auf das Abge­ord­ne­ten­haus, stelle mir dahin­ter den Bundes­rat vor und finde meine Regie­rungs­be­zirks­idee schon viel weni­ger über­zeu­gend als eben im Wedding. Soll sich die Regie­rung herum­schla­gen mit den Eigen­hei­ten des Berli­ner Verfas­sungs­rech­tes. Berlin ist nicht die Haupt­stadt, die Haupt­stadt ist in Berlin zu Gast und muss zufrie­den sein.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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