Ich komme von unten. Die Station unter der Erde heißt Turmstraße, der Name weist nach oben‑, von unten herauf, über die Erde, auf den Turm; hier wäre die erste Gelegenheit der Turm der Heilandskirche, 87 m hoch: das wäre doch was: aus dem U‑Bahnhof in den Direktfahrstuhl und bis in die Spitze: “Turmspitze, zurückbleiben” riefe der präpositionsfeindliche Fahrstuhlabfertiger, als ob im Augenblick ihrer Überwindung oben und unten sich umkehrten, die Zukunft die Vergangenheit, die Vergangenheit Zukunft. Um Gottes willen! Was war, wer will es wieder?
Ich nehme den Ausgang Alt-Moabit, in Berlin heißen viele Straßen ausdrücklich “Alt-”, dass auch ein Fremder schnell lernen kann: die Stadt hat wenig selbstverständliches Alter, sie muss sich welches herbeireden. Alt-Moabit ist ein Stück von meinem Leben. Eine Zeitlang war ich Richter dort unten; hinten liegt das Gefängnis. Ich weiß nicht, wie viele Menschen auf meine Verfügung um ihre Freiheit gekommen sind. Ich habe mir Mühe gegeben, schnell die Kurve in die Ziviljustiz zu kriegen; da ging es nur um Geld, am liebsten war mir die Kammer für Handelssachen: Kaufleute gegen Kaufleute, keine moralischen Probleme, reine Ökonomie, man konnte vernünftig handeln.
Es beginnt heftig zu regnen. Als ob ich für einen schuldhaften Gedanken bestraft werden müsste. Der Himmel überschüttet mich. Schnell nach rechts, in den Spreebogen, der der lebhaften Einkaufsstraße eine postmoderne Eleganz hinzugefügt hat, die sich sehen lassen kann. In meiner Zeit war das Bolle, Meierei, abgeschlossen, nur für Befugte. Jetzt einladend offen. Nicht die Architektur ist die Leistung, sondern die Vermietung. Demnächst verbindet die Spreebogen-Öffnung Alt-Moabit nach Süden mit Bundesregierungsamtlichkeit, hinten hat ein Geschickter das Bundesinnenministerium als Mieter gewonnen; falls da Otto Schily einziehen sollte — mein Gott: der Terroristenanwalt von damals jetzt hier an das vornehme Ufer, ein Herr der großen Lauschangriffe. Das stelle ich mir voller Verwunderung vor, im “Paulaner” sitzend, einer weiß-blauen Gaststätte mit Weißwurst im stilechten Suppentopf. Die Berliner hatten immer was übrig fürs Bayerische.
Als ich von der Blaskapellen-Musik genug habe, regnet es kaum noch. Ich kann schnell hinüber unter den Säulengang der Johanniskirche. Die edle Kirche ist von Schinkel, von ihm sind auch die ersten Gefängnispläne; als die Kirche mit dem Campanile von Stüler 1857 fertig ist, ist auch das Zellengefängnis nebenan nach dem Plan von Paul Sieneck endgültig fertig, Kirche und Gefängnis gehören historisch zusammen, da gäbe es viel zu sagen.
Ich sitze auf den Stufen, hinter dem Säulengang, dem Schmiedeeisengitter, dem goldenen Kreuz, das in die Kirchstraße hinunterleuchtet. Ich lese die Anschläge. Chormitglieder werden gesucht; der Pastor empfiehlt, die schöne Rosette auch mal von innen zu betrachten.
Als ich mich auf den Rückweg mache zur U‑Bahn, wähle ich mir aus der Geschichte der Kirche einen positiven Helden aus, einen Pfarrer, der hier in der Nazizeit Gott lobte und ein aufrechter Mann blieb: Er hieß Hitzigrath. Ehre seinem Andenken.
Mit dieser Erinnerung fahre ich nun unter der Erde hinüber nach Wedding. Nur ein paar Minuten bis zum Leopoldplatz. Und eine ganz ähnliche Szene: von Turmstraße zu St. Johannis, vom Leopoldplatz zu St. Joseph. Die Müllerstraße entlang. Auch ein biografischer Weg für mich.
Als H.-G. Lorenz geschäftsführender Landesvorsitzender der SPD war, die zu dieser Zeit eine Gesamtberliner SPD wurde, war ich fast täglich im SPD-Haus in der Müllerstraße. Zwei türkische Häuser davor, auf der Treppe der in die Straßenflucht eindrucksvoll eingepassten St. Josephskirche, verweile ich einen Augenblick wie vorhin am Fuße von St. Johannis. Auch hier werden Chormitglieder gesucht; der Pastor verweist im Schaukasten auf den heiligen Antonius von Padua: ich bin ein Heide, aber dieser Heilige ist mir sympathisch.
Der 13. Juni, an dem ich diesen Text schreibe, ist sein Tag. Buch und Esel sind seine Attribute. Ich liebe Bücher und Esel. Meine Freundin hält Esel. Die Stute hat gerade ein Fohlen geboren. Wir wollen es Toni nennen. Als ein Ungläubiger die Wirklichkeit Christi bezweifelte, zeigte Antonius einem Esel die Hostie und das Tier sank nieder auf die Knie, verständiger als die Menschen. Als die Einwohner von Rimini den Heiligen nicht anhören wollten, predigte er den Fischen, die verständiger als die Menschen — ihm aus dem Meer die Köpfe entgegenreckten, um seiner süßen Rede zu lauschen. Der Platz gegenüber, im dichten Grün der Bäume, heißt — auf den Stadtplänen der BVG in den nahen U‑Bahnhöfen steht es seit Jahren unverändert falsch — nach dem Pfarrer Metzger von St. Joseph, dem die deutsche Justiz in Brandenburg das Leben nahm, weil er den Deutschen Frieden gepredigt hatte. Ehre seinem Andenken.
Die Kirche erreicht man hintenherum über die Willdenowstraße, der Hof öffnet sich und bildet eine Exklave der Kirchlichkeit mitten in den Lebensstraßen: Das katholische Gottesarrangement ist dem evangelischen in Alt-Moabit ziemlich ähnlich. Als der Teufel über Deutschland herrschte, hatten beide Konfessionen ihre Teufelsanbeter und beide auch die Gerechten, um derentwillen ihr Gott das Land nicht verworfen hat.
Ich gehe die Willdenowstraße zu Ende, bis sie an der Lynarstraße auf die S‑Bahntrasse stößt, über die bald wieder hoch die Ringbahn fahren wird. Jetzt steige ich inmitten der Müllerstraße hinab in die U 6, die von Alt-Tegel nach Alt-Mariendorf fährt, als ob es von unten aus den Zeiten herauf und wieder hinabginge, in zehn Minuten bin ich am Oranienburger Tor. Dort beginne ich das dritte Stück dieses meine Gefühle schüttelnden Fahr-Spazierganges. Dieser über und unter der Erde verlaufende Weg führt durch ein einmaliges und gleichzeitig typisches Stück Berlin; drei exemplarische Male erreicht er Punkte, an denen die Stadt sich anhebt in die Welt, in der das Vorbild aller Städte liegt: das himmlische Jerusalem. Als ich die café- und kneipenreiche Oranienburger Straße, die bereits durch die jüngste deutsche Vergangenheit hinauf- und hinabläuft als eine zeitgeschichtliche Berg- und Talbahn, ostwärts gelaufen bin und vor der Großen Synagoge stehe, deren goldene Türme dem himmlischen Jerusalem morgenländisch besonders nahezustehen scheinen, denke ich: es gibt so viele himmlische Vorbilder für irdische Städte, im Himmel ist unser christlich-jüdisches Jerusalem vielleicht nur ein Vorort. Die leuchtenden Goldtürme in der Oranienburger Straße sind nur der Rest der Großen Synagoge, der Architekt von 1860 hatte die Alhambra vor Augen, unter den Arabern in Spanien war die Integration von Islam und Judentum gut gelungen, bis die Christen kamen und Araber und Juden vertrieben, zur selben Zeit Amerika entdeckten und die Indianervölker ermordeten.
Wild gehen mir die Gedanken durch den Kopf, während ich mit anderen Touristen vor den Goldtürmen stehe; vier Polizisten, “Angestellte im Polizeivollzugsdienst” machen einen ganz friedlichen Eindruck, geben Auskünfte über die jüdischen Einrichtungen, die hier zu finden sind, einer raucht lässig. Auch die Synagoge, sagen wir also Synagoge zu dieser Synagogenerinnerung, gehört zu einem geistlich-weltlichen Sperrbezirk, wie St. Johannis, wie St. Joseph: eine Exklave, dicht am dichten Straßenleben, zwischen Gott und Museum. Feenhaft, überirdisch, schrieb die Vossische Zeitung, als die Synagoge fertig war.
Vor dem Postfuhramt, das auch morgenländisch aussieht, steige ich hinab in die S‑Bahn, die mich unterirdisch abfährt bis nahe dorthin, wo ich diesen Text geschrieben habe, von einem Gefühl ins andere stürzend, auf und ab. Keine Stadt zerstört der Herr, die nicht Warner gehabt hätte. Nach dem Schweren kommt das Leichte.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
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