Park-Avenue

Belle­vue heißt schö­ner Blick. Den Blick, den man vom Perron des Bahn­hofs Belle­vue hat, braucht man nicht ausdrück­lich zu loben. Inter­es­san­ter ist es, wenn man unten ist. Der östli­che Ausgang führt dicht vor den Geri­cke­steg. Ich lehne am Gelän­der und schaue den Motor­boo­ten zu, die in groß­städ­ti­scher Häufig­keit die Spree hinauf- und hinab­zie­hen an einem schö­nen Sommer­tag wie diesem. Eine blonde, mittel­alte Steu­er­frau winkt mir freund­lich zu. Das Schiff heißt Diet­chen. Als ich ein Kind war, rief meine Mutter mich mit langem i: “Dieth”. Als ob unten meine Jugend vorbei­führe, leichte Wellen hinter­las­send, durch die die Enten tauchen.
Ich gehe am ande­ren Ufer — es heißt nach Helgo­land und dann nach Lüne­burg — ein Stück an den Stadt­bahn-Bögen entlang, Gara­gen, “Besei­ti­gung aller Unfall­schä­den”: eine freund­li­che Verhei­ßung, es ist über­haupt eine freund­li­che Gegend. Sieht man aller­dings die Calvin- und dann die Spener­straße nach Norden, erblickt man die grünen Türme des Krimi­nal­ge­richts. Oben in Alt-Moabit ist es also aus mit der Freund­lich­keit der Gegend, mitten in der Stadt Straf­ver­fol­gung und Straf­voll­stre­ckung. Wenn er die strot­zen­den Mauern sieht, muss sich doch jeder mitfüh­lende Mensch Gedan­ken darüber machen, wie zivi­li­sie­rend die Gesell­schaft wirk­lich ist, in der er seine kurzen Tage verbringt.
Scien­to­logy verkauft unsere Wohnun­gen — steht protes­tie­rend an dem Haus Ecke Spener-/Melan­chthon­straße. Als Jurist muss man sich über eine solche Aussage seine Gedan­ken machen. Ich verstehe die demo­kra­tisch gebil­de­te­ren Ameri­ka­ner gut, wenn sie die deut­sche Aufre­gung über Scien­to­logy über­trie­ben finden.

Während­des­sen gehe ich durch die Straße des Refor­ma­tors Melan­chthon, der auch kein sehr tole­ran­ter Mann war. Es kommt aber nicht mehr auf ihn an. Er ist in der Geschichte zurück­ge­blie­ben. Es gibt nur noch schmale Zugänge zu ihm. Ich folge dem lako­ni­schen Hinweis “Zugang” an einer Haus­wand, der mich von Melan­chthon direkt zu Ossietzky führt. Der Park zwischen Alt-Moabit und der Melan­chthon­straße heißt nach Carl von Ossietzky. Gut. Einen Park gegen­über einem deut­schen Gefäng­nis nach einem deut­schen Jour­na­lis­ten zu benen­nen, der durch deut­sche Gefäng­nisse umge­kom­men ist, das ist grund­sätz­lich in Ordnung. Sonst hat Ossietzky mit dieser sanf­ten Wiese nichts zu tun.
Wenn ich durch diese volks­tüm­li­che Park­an­lage gegan­gen und durch die Straße des Aufklä­rers Thoma­sius zur Schö­nen Aussicht zurück­ge­langt bin, werde ich mit der S‑Bahn bis Hacke­scher Markt fahren, durch den Monbi­jou-Park gehen, bis zur S‑Bahnstation Orani­en­bur­ger Straße, von dort bis Humboldt­hain und durch den Humboldt­hain bis zum U‑Bahnhof Gesund­brun­nen: dort ist heute meine private Park-Avenue zu Ende.

Manfred Jagusch, der Foto­graf, meint, Parks werden nur unter­scheid­bar durch das Drum­herum. Das Innere von Parks sieht eigent­lich immer gleich aus, meint er. Das finde ich nicht. Die Verwen­dung ist frei­lich gleich: Auf klei­nen Tüchern in der Sonne sitzen und liegen, in unbe­que­mer Haltung Zeitung lesen und zuse­hen, wie die Kinder sich erst beru­hi­gen und dann lang­wei­len. Auch ist eine Wiese natür­lich über­all eine Wiese. Aber was drun­ter ist, ist über­all was ande­res. Auch eine parkige Wirk­lich­keit besteht nicht nur aus einer Etage.
Alt-Moabit ist eigent­lich Neu-Moabit. Erst kamen die fran­zö­si­schen Sied­ler, die Mühe hatten mit dem unfrucht­ba­ren Boden: terre maudite, elen­des Land, terre de Moab, Land der Zuflucht, aber schwe­rer Boden. Später gab es Gondel-Verkehr von den Zelten, weiter hinten am nächs­ten Spree­bo­gen. Dann kam Borsig vom Orani­en­bur­ger Tor: Borsigs Eisen­werke, auch Schu­manns Porzel­lan­fa­brik. Und Borsig baute sich mitten­drin für sich eine Villa, die aussah, wie ein italie­ni­sches Schloss. Die Gärten Borsigs waren offen. “Das Köchin­nen-Vergnü­gen in Moabit” war ein geflü­gel­tes Wort: In den Moabi­ter Gärten trafen sich die Köchin­nen mit den Drago­nern, die sie lieb­ten. Mit diesem Arran­ge­ment war Moabit ein Höhe­punkt vom Berlin vor Siebzig/Einundsiebzig. Was wäre Berlin und Deutsch­land gewor­den ohne euro­päi­schen Bruder­krieg! Dann dachte es aber, die Welt mit Solda­ten einzu­ho­len, siegte ein biss­chen. Aber wurde schließ­lich besiegt von der Welt, der es sich über fühlte. Das geschah ihm recht.
Mit diesen Gedan­ken bin ich schon im Monbi­jou-Park. Das könig­li­che Lust­schloss, das einst hier stand, ist weg. Das ist o.k. Die Fürs­ten, die es bewohn­ten und sich schließ­lich hier ausstel­len ließen, haben das Welt­reich, von dessen kaiser­li­cher Vermeint­lich­keit Berlin die Haupt­stadt war, als ein Meer von Blut und Tränen 1918 verlas­sen, um wie eine Fami­lie harm­lo­ser Land­edel­leute zu Ende zu leben, eklig, die Hohen­zol­lern.

Ein erfri­schen­der Hauch ist an diesem Sommer­tag der Wind, den die S1 unter der Orani­en­bur­ger Straße vor sich her schiebt. Aus dem S‑Bahnhof Humboldt­hain steige ich auf zur Wiesen­straße und von dort auf die Wiese selbst. Humboldt­hain.
Ein pfif­fig frisier­tes türki­sches Kind, das noch keine türki­schen und erst recht keine deut­schen Sätze spre­chen kann, kommt mir freund­lich entge­gen, die Hoch-Kothurn-Schuhe der lagern­den Mutter spie­le­risch in den Händen. Wenn dieses Kind ein junger Mann ist, werden ihn Schön­bohm und die Ähnli­chen auswei­sen, wenn wir sie dann noch lassen.

Dieser Park wurde zum 100sten Geburts­tag des welt­be­rühm­ten Gelehr­ten ange­legt, den Berlin hervor­ge­bracht hat, Alex­an­der von Humboldt (1769–1859). Er ist hier nur ein Name, wie an tausen­den Stät­ten der Welt. Der Humboldt­hain war von Anfang an ein Volks­park, der zweite nach dem Fried­richs­hain. Warum soll ich die Menschen verein­fa­chend Nazis nennen, die ihn in den 40er Jahren verdar­ben durch viel­sto­ckige Beton­bun­ker, die sich hinter­her, am Ende des Millio­nen­mor­dens, noch nicht mal spren­gen ließen? Hier und dort ragen heute noch glatte Beton­wände empor, sonst verber­gen Berge aus begrün­ten Trüm­mern die Schau­er­lich­kei­ten. Manche, heißt es, kommen durch verbor­gene Eingänge noch hinab. Drun­ten, schrieb seiner­zeit die taz, spuken Runen- und Haken­kreuz­geis­ter.
Die Mord- und Verfol­gungs­wut war in Deutsch­land viel zu massen­haft, als dass sie ganz verges­sen sein könnte. Wir merken es manchem an, der sich keines­wegs in Bunkern versteckt. Wer hier auf den Sonnen­tü­chern des Verges­sens lagert, der … ach, was denn, was? Aus der Vergan­gen­heit eine düstere Drohung für die Gegen­wart machen: das nützt uns gar nichts. Die Geis­ter der Vergan­gen­heit sind über­all. Aber über­mäch­tig sind sie nicht. Gesund­brun­nen — heißt wie eine Verhei­ßung die U‑Bahn-Station, an der ich meine Park-Avenue beende, mit einem schö­nen Blick zurück.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Frank Winkel­mann (CC BY-SA 3.0)

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