März im September

Von Kreuz­berg durch Fried­richs­hain, nach Kreuz­berg zurück. Am Platz der Verein­ten Natio­nen steige ich aus. Der Tag hatte mit Lampen­fie­ber begon­nen. 25 Jahre bin ich jetzt Hoch­schul­leh­rer. Ganze Gene­ra­tio­nen von Justiz­funk­tio­nä­ren habe ich belehrt. Kurz vor dem Ende jetzt wache ich an Lehr­ver­an­stal­tungs­ta­gen vorzei­tig auf, weil mich im Traum einer fragt: Warum sagst du den Studen­ten nicht die Wahr­heit? Ich will meine Melan­cho­lie ausat­men. Ich sitze neben den rasten­den Arbei­tern auf einer Bank am Nordende des Plat­zes; beinahe ein klei­ner bota­ni­scher Garten; die Bäume sind numme­riert und beschrif­tet, am besten gefällt mir heute Nummer 13, Schwarz­ahorn, Faas­sens Black, USA. Die Steine des Brun­nens symbo­li­sie­ren die Erdteile, “Austra­lian Black” ist so viele Kilo schwer wie Sydney Kilo­me­ter weit. Am Info­cen­ter der tüch­ti­gen WBF vorbei gehe ich in den Fried­richs­hain, den namens­ge­ben­den Park.

Um diesen Park rich­tig mitzu­krie­gen, muss man ihn am Haupt­ein­gang betre­ten. Damit man in Kontakt kommt zum Geist des Hains. Geist des Hains? Gibt es solche Geis­ter? Na klar! Dieser Park ist voll­ge­pumpt mit Absicht. Über­all lauert Bedeu­tung. Während ich links rum auf dem Park­weg zum Park­ein­gang am Märchen­brun­nen bin, versu­che ich die Verben zu beden­ken: Voll­ge­pumpt, lauern. Lauern asso­zi­iert Über­fall. Städ­te­pla­ne­risch kann der Haupt­ein­gang ja schö­ner nicht sein, spitz­wink­lig zwischen den Stra­ßen, am Königs­tor; aber was dann mit neun Arka­den kommt: der Märchen­brun­nen vom Stadt­bau­rat Ludwig Hoff­mann, der über­haupt gerne archi­tek­to­nisch prunkte, — eine Art Über­fall ist das schon.
Es war der Vortag des ersten Welt­kriegs, als diese Figu­ren und Wasser hier instal­liert wurden; Kunst aus Barock-Imitat mit Märchen­in­halt zur Beglü­ckung derer, die schon auf dem Weg zur Schlacht­bank waren, ehe sie es noch glau­ben woll­ten. Und jubel­ten. Ihre große Arbei­ter­par­tei, die welt­größte ihres­glei­chen, sagte ja zu Mord und Totschlag. In gutem Zustand ist die Anlage, die anfangs noch präch­ti­ger war, nicht, das Wasser schäumt weißen Schmutz, die Märchen­fi­gu­ren verwit­tern.
Zwei junge Männer küssen sich hinter einer Brun­nen­schale und fassen sich ein biss­chen an. Ein Hand­wer­ker steht Bret­ter schnei­dend in einem Erdloch, als ob er nur halb wäre. Eine junge Frau im engen Busen­schwen­ker joggt vorüber. Ein Elfjäh­ri­ger ruft schrift­lich Hilfe, seine York­shire-Hündin ist wegge­lau­fen, “ruft mein Papa auf Arbeit an”; mich rühren die Hilfe­rufe verlas­se­ner Tier­be­sit­zer immer sehr. Aber wovor laufen die Hunde und Katzen weg? Vor der Liebe? Frei­heit statt Liebe?
Der stehende Brun­nen am Asphalt­platz neben dem großen Teich hat rotes Wasser. Absicht? Auf einer der mitt­le­ren Stelen steht die Liebes­er­klä­rung von Janine für Leonardo. Dafür musste sie durchs Wasser gehen. Auf eine Insel für die Liebe.

Schnel­len Schritts bin ich jetzt auf dem Weg zum Fried­hof der März­ge­fal­le­nen. Wie konnte der Volks­mund, denke ich, dieje­ni­gen, die im März 1933 schnell in die Nazi­par­tei eintra­ten, um auf der Seite der Sieger zu sein, “März­ge­fal­lene” nennen? Das hieß, dass man von den März­ge­fal­le­nen von 1848 keine Vorstel­lung mehr hatte. Während Lenné diesen Park reali­sierte, war Revo­lu­tion oder Revo­lu­ti­ons­stim­mung um ihn. Die erste Park­erwei­te­rung war dieser Fried­hof der Revo­lu­tion: für ein “Staats­be­gräb­nis von unten”. Es ist haupt­säch­lich eine Wiese. Sie ist gerade frisch geschnit­ten. Es riecht nach hinge­rich­te­tem Gras, der Geruch einer täuschen­den Frische. Vorne links das dicke Grani­t­rot mit Lieb­knecht- und Ulbricht-Zitat, das Staats­ar­ran­ge­ment, das einen Zusam­men­hang zwischen den Toten von 1848 und denen von 1918 herzu­stel­len versucht. In der Mitte der Wiese ein mit schwar­zer Schrift glän­zen­der Denk­mals­stein. Auch die Grab­steine am Rande jubi­lä­ums­er­neu­ert: der Staat gibt sich alle Mühe, die Revo­lu­tion als eine herren­lose Sache zu behan­deln, an der derje­nige Eigen­tü­mer wird, der sie sich zueig­net. Geschichte ist vor allem Propa­ganda-Stoff.
Wo man diese Stätte der undeut­li­chen Bedeu­tung verlässt, hat der Amts­lei­ter Vogt eine rot-weiße Bande­role gespannt und ange­schrie­ben: “Zur Zeit ist der Zugang zum Fried­hof der März­ge­fal­le­nen leider nicht möglich.” Auf der Bank vor diesem versperr­ten Ausgang, der ein versperr­ter Eingang sein will, steht, gestern ange­schrie­ben: “Für die wirk­lich Sensi­blen und Nach­denk­li­chen: Schwul­sein ist oft echt beschis­sen.” Manch­mal klappt die Liebe, manch­mal klappt sie nicht. Die Liebe ist anar­chisch und revo­lu­tio­när. Manch­mal klappt die Revo­lu­tion, manch­mal nicht. Dem Staat — man sieht es — gefal­len vor allem die erfolg­lo­sen Revo­lu­tio­nen.

Die Straus­ber­ger Straße, die ich nun U‑Bahn-wärts gehe, wollen Geis­tes­ak­ti­vis­ten des Fried-Gymna­si­ums hier um die Ecke nach Zinna benen­nen, dem 18-jähri­gen März­ge­fal­le­nen. Ich schlage vor, die Straße “Alte­kopf-bis-Zinna-Straße” zu nennen, nach dem ersten März­ge­fal­le­nen im Alpha­bet und dem letz­ten. Für das Fried-Gymna­sium habe ich eine Sympa­thie, die grund­los ist, weil ich die Schule eigent­lich gar nicht kenne. Die Schul­lei­te­rin heißt Antal. “Antal in den Fleisch­wolf” steht nebenan ange­sprayt. Kinder, wisst ihr nicht, dass Wörter Bedeu­tun­gen haben? Profes­sor Luft, die in einer doch gewiss unge­rech­ten Repu­blik — wenn es über­haupt eine Repu­blik war — die Jugend gelehrt hat, fordert auf ihrem Wahl-Plakat: eine gerechte Repu­blik. Ich lese das auch als eine Art Entschul­di­gung. Jeder, der lehrt, verlehrt sich biswei­len. Das weiß ich aus Erfah­rung.
Im Unter­grund sause ich mit U5 und U2 bis zum Pots­da­mer Platz, wo sich die Bagger in die Geschichte hinein­fres­sen, ohne sie über­haupt zur Kennt­nis zu nehmen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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