Vater, Land

Die Möllendorffstraße heißt nach einem Feldmarschall; seit 1910; dazwischen 14 Jahre nach einem Politiker, Journalisten, der Konditor gelernt hatte. Sie hebt sich an. Der Ort entwickelt sich an ihr hinauf. Ist man von der Frankfurter Allee um die Ecke, sieht man schon das Rathaus. Erst glaubt man dem Taubentürmchen nicht, dass darunter immer noch Bürokratie liegt. 1898 gebaut. Ich kann mir gut vorstellen, was hundert Jahre sind. Im Jahre 1898 ist mein Vater geboren. In Jena, wo er aufwuchs, hat er das erste Auto gesehen, das eine Straße nicht hinauf kam, die nicht mal so steil – steil? – ist wie die Möllendorff. Vom 98er Rathaus das kurze Stück Weges aufwärts, meinetwegen – das wirkt dann wie eine Art Täuschung – durch den Stadtpark, der Möllendorffs Hausgarten war, über den Loeperplatz bis in die Siedlung am Fennpfuhl: Länger als ein Viertelstündchen braucht auch der Langsamste dafür nicht. Von woher ist er nun wohin gegangen?
750 Jahre alt ist das Kirchlein am Loeperplatz; gewisse Steine in diesem Kirchlein jedenfalls haben dieses Alter, in Wirklichkeit sind sie vielleicht so alt wie die Erde. 750 Jahre erinnert sich eine Gesellschaft nicht zurück. Das Jahr 1250, aus dem diese Kirche stammt, hat es gar nicht gegeben.

Man kann diese Kirche hinter den Wiesen, über die kein legaler Weg zu ihr führt, in einem Blick umfassen mit den Hochhäusern und Wohnblocks, mit denen die Möllendorffstraße endet und der Weißenseer Weg beginnt. Die Siedlung am Fennpfuhl erstreckt sich weit nach Westen, südlich sozusagen auf der Karl-Lade-Straße liegend, als sei die Straße des Antifaschisten die Grundlage von allem; aber wer weiß was von Karl Lade, was die Geschichte nicht auch schon verschlungen hätte? 1945 hat ihm die deutsche Justiz in Brandenburg das Leben genommen; nächsten Jahr würde er 90.
Wenn man am Fennpfuhl steht, der eigentlich zu klein ist, um einer solchen Hausansammlung den Namen zu geben, vielleicht vor der Fontäne am Teich, der sich hier See nennt, wenn man den Namen „See-Terrassen“ ernst nimmt – eines Lokals, das geschlossen ist -, wenn man dort steht neben dem Kirchlein am Fennpfuhl, 740 Jahre jünger als das Loeper-Kirchlein, dort hätte der, der Berlin nicht kennt, bereits vergessen, dass er vor einem Viertelstündchen am Rathaus vorüberkam, das so alt ist, wie sein Vater. Die erfahrene Zeit ist eine andere Zeit als die vermessene.

Grob gerechnet ist die Siedlung am Fennpfuhl so alt wie die Gropiusstadt und wie das Märkische Viertel – diese Siedlungen, die – Ost oder West – als die Eltern-Siedlungen angesehen werden können zu anderen Suburbs, die ganze Bezirke bilden.
Wer am Fennpfuhl auf der Wiese steht – oder besser: an der Karl-Lade-Straße inmitten des Halbmarktes, vielleicht vor dem Bretterstand mit den BHs, vor „extra“ oder Kaufhalle – der hat vielleicht überhaupt nicht den Sinn dafür, dem Ort, an dem ihn der kühle Herbstwind in einem Bistro-Unterstand hinein treibt, eine Realität jenseits der Gegenwart zuzubilligen. Vor dem Standesamt an der Karl-Lade-Straße, der Rudolf-Seiffert-Straße gegenüber, habe ich gestern ein paar Minuten unter der kahlen Pergola auf einer Bank gesessen, die Gegend macht einen gesetzten, versammelten Eindruck auf mich, plötzlich denke ich: Es ist ja wie in Bad Pyrmont, obwohl mich hohe Häuser umstehen, vor denen die grün-blauen Renovierungsnetze hängen; ich kann dem Rauschen der Bäume zuhören; ruhig eilen Frauen zum Einkaufen, sachte klingeln die Fahrräder des Grünflächenamtes, der grell-grüne Gartenwagen hält, eine rotblonde Frau steigt aus und beginnt, die Wege zu harken.
Was war hier 1971, bevor die vierzehn Jahre begannen, die diese Stadt in der Stadt hervorbrachten, über 15.500 Wohnungen für fast 38.000 Menschen? 1862 hatte James Ludolf Hobrecht hierher schon Straßen gezeichnet. Aber er hatte sie nur gezeichnet – die Wirklichkeit bildeten Gärten, Kleingärten, Ackerflächen; Lichtenberg war weiter unten um das Rathaus vom Alter meines Vaters.

Ich war selbst bereits Richter am Kammergericht, als die Bagger hier begannen. Ich studierte in Hamburg, als „im letzten gesamtdeutschen Wettbewerb“ 1956 Ernst May aus Hamburg den 1. Preis für seinen städtebaulichen Plan Fennpfuhl gewann, von einer Jury, der auch West-Architekten angehörten, einer von ihnen war ein architektonischer Gefolgsmann Albert Speers, der Berlin zerstören und für Hitler neu bauen wollte.
Der gesamtdeutsche Ansatz von 1956 hielt nicht lange. In den 50er Jahren ging es den Deutschen hüben und drüben auch städtebaulich nicht um das Mögliche, sondern um das plakative. Die Kleingärten konnten noch fast zwanzig Jahre bleiben. Dann kam der VIII. Parteitag der SED, und dann ging hier ziemlich viel durcheinander. Aber es entstanden Wohnungen. Vorne hängen noch die freundlichen Plakate von Christa Luft und Gregor Gysi.
Demnächst wird das Gebiet vielleicht schöner sein, als es jemals war. So angenehm nah am Zentrum der Metropole liegt sonst keine Trabantenstadt. Das ist gar keine Trabantenstadt. Das ist Lichtenberg. Das ist Berlin. Wer hier nicht gewesen ist, ist nicht in Berlin gewesen.

Ich sitzt jetzt oberhalb der Lade-Straße im bunt beschrifteten Bistro.
„Einen Milchkaffee und zwei halbe Brötchen, bitte!“
„Nee, jetzt looft die Mittagskarte!“
Die Schuljungen legen Kaugummis auf die Tram-Schienen und beobachten, ob es quietscht.
„Es hat gequietscht!“ schreien sie jubelnd, aber drinnen in der Bahn versichern sie sich lachtend: „aber gehört hab ichs nicht!“
Mein Vater war Lehrer. Diese Jungen hätten ihm gefallen. Sein Vater war Glaser.
Ein Konditor ist mir tausend Mal lieber als ein Marschall.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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