China in Spandau

Die Roll­treppe rollt mich von der U7 unter dem Rathaus herauf direkt in die weit­räu­mige Bus-Halte­stelle. Es ist halb Fünf am Nach­mit­tag, die Busse stehen Doppel- und Einde­cker, fast bis zum Amts­ge­richt hinten, in dem Jahre meiner Jugend begra­ben liegen. Ich lebte dort im Amts­ge­richt Span­dau als Rich­ter gar nicht in Span­dau. Das “Falken­ha­ge­ner Feld”, wohin ich jetzt auf dem Wege bin, war eine Voka­bel in den Reden der Grund­buch­rechts­pfle­ger: Massen­ge­schäfte, allein die “Neue Heimat” baute dort über 2.400 Wohnun­gen. Die Neue Heimat — in ihrem frühen Ruhm und späte­rer Schmach: eine Gewerk­schafts-Adresse, die nur noch die Erin­ne­rung derer bewahrt, die ihr Verges­sen wünsch­ten.
Eine Mutter mit drei Kindern, eins im Wagen, will auch in den 237er. “Muss die grad im Berufs­ver­kehr mit die Kinder rumturn’n?”, sagt ein Ermü­de­ter zu seiner Beglei­te­rin, die auch müde ist und deshalb nicht ausruft: “Was sagst du da?!” Ich sage auch nichts. Vier Statio­nen lang werfe ich mir mein Schwei­gen vor. Das Schwei­gen der Anders­den­ken­den ist die Ursa­che von so viel Wirr­nis­sen.

Unter stumm-verspä­te­ten Repli­ken gehe ich die Zeppe­lin­straße nord­wärts. Kurz vor den Häusern, die ich mir hier anse­hen will, biege ich rechts in den Spek­te­weg, der sich schnell in Land­schaft verwan­delt, dort errei­che ich den Kande­ler Weg, an der Sport­schule vorbei, in der die Kinder im weißen fern­öst­li­chen Kampf­an­zug auf den Trai­nings­be­ginn warten. Mit drei Sonnen­schir­men verschafft sich einer Schat­ten für den Hoch­haus­bal­kon: Heute ist ein grauer Tag, der Himmel macht Schat­ten für alle. Eine ruhige Gegend. Die Metro­pole hat Ruh. Ohne solche Vier­tel gäbe es über­haupt keine Metro­pole. Ohne sie wäre die Metro­pole nichts als Touris­ten- und Regie­rungs­t­almi. Den Germers­hei­mer Platz umste­hen Birken, die der Gegend eine heimat­li­che Zärt­lich­keit verlei­hen. Die Kinder auf den Spiel­plät­zen hier werden später, wenn ihnen das Alter die Haare graut und aus den Erwar­tun­gen Erfah­run­gen gewor­den sind, sagen: “Auf dem Germers­hei­mer Platz waren wir Hertha BSC, BVB und Bayern München”.
Das Eindrucks­vollste sind die Gärten, die die Höfe bilden zwischen den Wohn­blocks: Das Gemein­same in Ausgleich gebracht mit dem Einzel­nen, das Öffent­li­che mit dem Priva­ten, die Stadt mit der Fami­lie. “Das ist mensch­li­ches Wohnen! Das ist Huma­ni­tät!”, sagt Manne Jagusch, der Foto­graf. Im Germers­hei­mer Weg hat er ein freund­li­ches Ehepaar getrof­fen, das ihn die Fassa­den betrach­ten sah, die ich jetzt auch ansehe.

“Na, kenn’ Sie den Archi­tek­ten?,” fragt der Rent­ner und reicht ihm dann einen Zettel, den er für alle Fälle immer bei sich trägt: “Archi­tekt: Richard Ermisch; Baujahr 1926 bis 27; Stil­rich­tung des Expres­sio­nis­mus in der Archi­tek­tur der zwan­zi­ger Jahre”. “Weil die Leute immer fragen: Wie kommen denn die chine­si­schen Häuser nach Span­dau?”
Ich kenne den Einstein­turm in Pots­dam, das Scheepv­ar­t­huis in Amster­dam, das Chile­haus in Hamburg, von den expres­sio­nis­ti­schen Archi­tek­tur-Spit­zen­män­nern Mendels­ohn, van der Mey, Höger: An China habe ich dabei bisher nicht gedacht, aber wenn ich es jetzt so bedenke: Der Turm-Expres­sio­nis­mus, den Richard Ermisch an der Ecke Zeppe­lin­straße und Falken­seer Chaus­see aufge­stellt hat, der kann tatsäch­lich auch für chine­sisch durch­ge­hen.
Was wissen wir nun, nach­dem wir wissen: Diese Fassa­den an der Zeppe­lin­straße, ein Stück Pirma­sen­ser Straße und ein Stück­chen über die Pirma­sen­ser hinaus, die vier Türme, die von der Ecke zurück­wei­chen, aber sie doch beto­nen und die Neue­run­gen des Falken­ha­ge­ner Feldes gnädig verde­cken, das sind keine Chinoi­se­rien, sondern archi­tek­to­ni­scher Expres­sio­nis­mus?

“Das expres­sio­nis­ti­sche Jahr­zehnt” heißt ein Aufsatz von Gott­fried Benn, einem Balkon­gott meiner Jugend, da stehen melan­cho­li­sche Sätze drin, denn als er ihn schrieb, wusste der expres­sio­nis­ti­sche Lyri­ker der Sonder­klasse schon, dass er eine kurze Zeit fast ein Nazi gewe­sen war, ehe er ein Klas­si­ker wurde: “Es war doch alles viel bela­de­ner, als wir glaub­ten.” Nach dem spit­zen, ecki­gen, aber manch­mal auch schiffs­au­gen­run­den Expres­sio­nis­mus, der an den Haus­fas­sa­den die nack­ten Putten und halblei­bi­gen Göttin­nen durch pure Spitz­gie­bel­chen und sprin­gende Ecken ersetzte, kam … kam: die Bauten von Ermisch hier waren 1927 fertig, sechs Jahre bis Hitler, Hitler kam nicht von selbst, und er kam nicht allein. Einer, den er mitbrachte, hieß Albert Speer, ein begab­ter Archi­tekt, er hatte gelernt, Städte zu bauen, aber er hatte vor, Städte zu zerstö­ren. Richard Ermisch war nicht gerade ein Favo­rit Speers, aber er machte mit. Mit dem SPD-Baustadt­rat Martin Wagner hatte er bis 1930 — nichts von Expres­sio­nis­mus, nun: “Neue Sach­lich­keit” — das Strand­bad Wann­see gebaut, 1935 baute er im NS-Partei­tags­stil die “Ehren­halle” unter dem Funk­turm; 1937 ließ Speer ihn die Bebau­ung der Klein­gär­ten in Schö­ne­berg-Süd mitpla­nen, 1934 hatte er den Nazi-Zerstö­rungs­plan für das Scheu­nen­vier­tel ausge­führt — oder war es doch “Besei­ti­gung eines Elends­vier­tels”? — und nach den Nazis war er auch wieder dabei: als 1946 “Berlin plant”(e) in der Scharoun-Ausstel­lung in den Resten des Schlos­ses, zeigte Ermisch Pläne für einen neuen Gendar­men­markt, 1950 war er unter SPD-Stadt­rat Walter Nick­litz Leiter des Amtes für Stadt­raum­pla­nung und so fort. Der “chine­si­sche” Baumeis­ter war also wohl ein Mann für viele Gele­gen­hei­ten. Hier­her nach Span­dau, Zeppe­lin­straße, kann er mit gutem Gewis­sen herun­ter­bli­cken oder herauf, wo immer er jetzt ist.
Ich gehe die Zeppe­lin­straße bis zu “Denk­mä­ler Makosch”. Dort, an der Pionier­straße, endet die Stadt, ein symbo­li­scher Ort, hinter dem hefti­gen Auto- und unter dem lauten Flug­ver­kehr beginnt “In den Kisseln”, die weite Toten­stätte, wo wir versu­chen, so zu tun, als ob von uns etwas bliebe, wenn der große Trom­pe­ten­stoß erklun­gen ist.
“Sie reden wohl nicht mit jedem!” raunzt mich die Busfah­re­rin an, weil ich sie an der Endhal­te­stelle Rathaus nicht ausdrück­lich gebe­ten habe, mir die Tür aufzu­tun. Damit bin ich zurück aus den melan­cho­li­schen Träu­men. China ist zu Ende. Expres­sio­nis­mus! Ausdrucks­ver­such! “Was! (maunze ich zurück) Wie kommen Sie mir denn vor! Könn Sie nich …” Und die Tür ist wieder zu.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Gunnar Klack (CC BY-SA 4.0)

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