Der erste 1. Mai in Kreuzberg

1987 gab es in Kreuz­berg die bis dahin stärks­ten Stra­ßen­kra­walle zum 1. Mai. Damals wurde die “Tradi­tion” der Maikra­walle begrün­det. In einem Roman­ent­wurf habe ich meine Erleb­nisse von damals fest­ge­hal­ten, die Namen wurden jedoch geän­dert. Aufmerk­same Leser kennen den Text bereits.

Der 1. Mai war ein warmer Tag. Am frühen Nach­mit­tag gingen wir zum Lausit­zer Platz, wo gerade das Stra­ßen­fest begon­nen hatte. Schon seit ein paar Jahren wurde an diesem Tag im Kiez gefei­ert. Auf einer Bühne spiel­ten Bands, Artis­ten traten auf, einige Läden aus der Gegend bauten Stände auf und verkauf­ten Bücher, Schmuck und Klamot­ten. Poli­ti­sche Initia­ti­ven verteil­ten ihr Info­ma­te­rial und viele einzelne Leute oder Beset­zer­kol­lek­tive boten Kaffee, Saft und selbst geba­cke­nen Kuchen an. Dazwi­schen gab es Spiele für Kinder, über­all hörte man Musik, es war eine fröh­li­che Stim­mung. Dies­mal aber, 1987, war etwas anders. Es gab Diskus­sio­nen, über­all stan­den Grup­pen von Leuten, die laut mitein­an­der rede­ten. Ich erfuhr, dass in der Nacht zuvor der Mehring­hof von der Poli­zei durch­sucht worden war. Dieses Zentrum der radi­ka­len Linken in Berlin war ein Symbol, die Razzia bedeu­tete ein Schlag gegen die Szene. Opfer der Durch­su­chung war das VoBo-Büro, wo die Aktio­nen gegen die von der Bundes­re­gie­rung geplante Volks­zäh­lung koor­di­niert wurden. Es war klar, dass es dage­gen noch Protest geben würde, aber ich wollte jetzt erst­mal nur feiern.

Tobi aber war ziem­lich sauer. Und beun­ru­higt. »Meinste, dass es heute noch knallt? Das kann man doch nicht einfach so hinneh­men.«
»Klar, da kommt heute noch was, aber jetzt will ich erst­mal was zum Futtern und ’n biss­chen rumku­cken.«
»Tach Mädels, wie geht’s?« Marko war ein rich­ti­ger Auto­no­mer, immer zu einer Provo bereit, die Hass­kappe in der Tasche.
»Habt ihr Lust auf ein biss­chen Action? Wir tref­fen uns gleich am Görli, viel­leicht finden wir was zum Aufräu­men.«, grinste er.
Aufräu­men – das bedeu­tete das genaue Gegen­teil, Krawall, mit oder ohne Anlass. Haupt­sa­che es knallt. Ich bin jemand, der darauf auch manch­mal Lust hat, in den vergan­ge­nen Jahren habe ich an fast allen Stra­ßen­schlach­ten teil­ge­nom­men. Dies­mal aber wollte ich nicht so recht, jeden­falls nicht jetzt schon, am späten Nach­mit­tag.

Noch während wir neben der Kirche am Lausit­zer Platz stan­den, hörten wir Geschrei am Görlit­zer Bahn­hof. Von uns aus konn­ten wir aber nichts sehen, außer einem einzel­nen Baulicht. Tobi nahm mich an die Hand und so wäre ich mit ihm über­all hinge­gan­gen. Er wollte aber auch erst­mal nur auf dem Fest blei­ben.
Auch die Kirchen­ge­meinde hatte einen Stand aufge­baut und verkaufte dort Kekse und Saft. Nicht teuer, aber trotz­dem zu viel für mich. In dieser Situa­tion gibt es nur zwei Möglich­kei­ten, nett oder böse sein. Also entwe­der disku­tie­ren oder einfach zugrei­fen und abhauen. Beides macht auf unter­schied­li­che Art Spaß, aber weil Chris­ten ja gerne reden, versuchte ich sie meiner­seits zuzu­tex­ten. Von wegen, dass Jesus ja auch das Brot gebro­chen habe und nicht extra Geld dafür verlangte.
»Gebt dem armen Jungen doch was zum Essen, er wird sonst vor Hunger noch bewusst­los, direkt vor eurem Stand!« Tobi gab sich wirk­lich Mühe.
»Dafür würde er euch bestimmt auch die Füße waschen.«
Ich dachte, ich höre nicht rich­tig.
»Bist du bekloppt? Wieso denn Füße waschen?«
»Du soll­test öfter mal in der Bibel lesen. Da steht das drin!«
Natür­lich hatte auch Tobi kein biss­chen Ahnung vom Neuen Testa­ment, wahr­schein­lich hatte der die Story nur beim Kommu­ni­ons­un­ter­richt aufge­schnappt.  Aber ob man damit Chris­ten beein­dru­cken kann?
»Du siehst eigent­lich nicht so aus, als ob du nach der Bibel leben würdest«, entgeg­nete die Hippie­frau schnip­pisch, aber da war sie bei uns an der rich­ti­gen Adresse!
»Wie bitte? Schon als Kind habe ich täglich den Herrn ange­ru­fen…«
»…und um Verge­bung gefleht für meine Sünden!«
»Genau. Und wie oft habe ich meinen Mitmen­schen in schwe­ren Stun­den beigestan­den!«
»Stimmt. Er hat Trost gespen­det und sein letz­tes Hemd hat er gege­ben!«
»Alles im Namen der Barm­her­zig­keit und des Glau­bens.«
»Amen!«
Tobi und ich ergänz­ten uns hervor­ra­gend und wir waren erfolg­reich: »Na gut, ihr habt mich über­zeugt…«
Wir beide grins­ten uns an.
»… dass ihr gute Schau­spie­ler seid. Das soll belohnt werden.«
Sie goss jedem von uns einen Becher Saft ein und reichte uns zwei Stück Kuchen.

In diesem Moment rann­ten uns mehrere Kinder um, die Saft­be­cher flogen auf den Verkaufs­stand, wir selber konn­ten uns gerade noch fest­hal­ten. Eben noch über­all Musik und Lachen, auf einmal nur noch Geschrei. Inner­halb einer Sekunde war die Stim­mung gekippt, die Panik der Kinder griff auch auf die Erwach­se­nen über. Die Wege zwischen den klei­nen Stän­den waren viel zu eng für die Masse an Menschen, die plötz­lich dort durch rann­ten. Alles was im Weg stand, wurde zur Seite gedrückt, die vielen Tape­zier­ti­sche mit Spiel­zeug und Selbst­ge­ba­cke­nem zerbra­chen, durch die bers­ten­den Saft­fla­schen wurde es sofort sehr rutschig. In ihrer Panik fielen die Leute hin, andere rann­ten darüber hinweg.

Im Gegen­satz zu den meis­ten ande­ren wusste ich, dass unkon­trol­lier­tes Wegren­nen meist keinen Sinn hat. Man nimmt seine Umge­bung nicht mehr wahr, läuft viel­leicht noch in die falsche Rich­tung. Bei den vielen Demons­tra­tio­nen habe ich gelernt, ruhig zu blei­ben, die Situa­tion zu über­bli­cken und erst dann zu reagie­ren. Nun aber sah ich die Kette der weißen Poli­zei­helme auf uns zu rennen, ihre Knüp­pel schlu­gen in alle Rich­tun­gen. Während die ersten nur noch ein paar Meter entfernt waren, blieb der größte Teil von ihnen stehen. Dort prügel­ten sie auf mehrere Leute ein, die am Boden lagen und sich, so gut es ging, mit ihren Armen vor den Schlä­gen schütz­ten. Sie schrien um Hilfe. Wir stan­den direkt neben einem Gebüsch, und anstatt mit mir abzu­hauen, bückte sich Tobi, holte sich einen Stein aus den Büschen und warf ihn aus der Drehung dem vorders­ten Bullen direkt an den Helm. Sofort rasten wir los, den ande­ren Flüch­ten­den hinter­her. Nach ein paar Metern kamen wir an einem Kinder­wa­gen vorbei, offen­bar war die Mutter mit ihrem Baby schon wegge­rannt. Im Laufen zog ich den Wagen hinter uns her und warf ihn um. Wie erhofft stol­perte der Prügel­bulle, aller­dings ohne rich­tig hinzu­fal­len. Ein ande­rer sprang darüber hinweg und verfolgte uns weiter. Anschei­nend wurde er aber zurück­ge­pfif­fen. Er drehte um und dann liefen sie zu ihrer Einheit zurück.

Damit war es aber noch nicht vorbei. Von hinten wurden nun Tränen­gas­gra­na­ten geschos­sen, und zwar groß­flä­chig auf den gesam­ten Platz. Während sich die Schlä­ger zurück­zo­gen, knall­ten von dahin­ter die Gewehre, die inner­halb einer Minute mindes­tens 20 Gaskar­tu­schen abfeu­er­ten. Der gesamte Lausit­zer Platz, der kleine Park, der Spiel­platz und die Kirche verschwan­den in den Tränen­gas­schwa­den. Während des Angriffs waren viele Kinder in die Büsche geflüch­tet, schrei­end kamen sie nun raus und rieben sich die bren­nen­den Augen. Eine Frau kam mit einer Selters­fla­sche ange­rannt und spülte mehre­ren Mädchen die Augen aus, alle nicht älter als neun oder zehn Jahre.
Manche hatten den Fehler began­gen hatte, sich in Haus­ein­gänge zu flüch­ten. Das hat die Poli­zei beob­ach­tet. Ein Trupp stieß vor, riss die Türen auf und schoss eben­falls Gas in die Haus­flure. Natür­lich strömt es dort auch in die Wohnun­gen, aber das war ihnen wohl egal. Für sie waren die Kreuz­ber­ger eh alles poten­zi­elle Terro­ris­ten, da ist es nicht schade drum, wenn deren Wohnun­gen mit Tränen­gas verseucht wurden.

Auch Tobi und ich hatten die volle Ladung abbe­kom­men und so brann­ten uns die Augen wie verrückt. Man musste sie möglichst zu lassen, was beim Wegren­nen aber nach­voll­zieh­bare Probleme macht. Ich hatte Kontakt­lin­sen, die die Augen einige Minu­ten vor dem Gas schüt­zen. So konnte ich uns beide in ein türki­sches Café retten, in dem wir uns erst­mal die Augen ausspü­len konn­ten.

»Das mit dem Stein war nicht gerade die Idee des Jahr­hun­derts«, sagte ich zu meinem Freund.
»Wieso? Kloppe hätten wir doch sowieso bekom­men. Außer­dem hatte ich zum Nach­den­ken keine Zeit, wie du viel­leicht bemerkt hast.«
Zwischen uns war plötz­lich eine aggres­sive Stim­mung.
»Kein Grund gleich auszu­flip­pen, man! Was sollte ich denn machen? Stehen blei­ben und mich zusam­men­schla­gen lassen?«
Er hatte ja recht, wahr­schein­lich hätte ich selber auch gewor­fen, wenn ich gerade ’nen Stein oder eine Flasche in der Hand gehabt hätte.
»Haste gehört, wie das geschep­pert hat?« Wir lach­ten beide los.
»Kein Wunder, Hohl­köpfe sind ein prima Reso­nanz­kör­per. Das ist wie bei ’ner Glocke.«
»Gong. Gong«. Ich konnte mich plötz­lich vor Lachen kaum noch halten.
»Schade, dass er sich nicht rich­tig auf’s Maul gelegt hat.«

»Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Tobi.
»Na, was glaubst du denn? Nach der Aktion knallt es doch wie noch nie.«
Ich sollte recht behal­ten. Inner­halb einer Stunde entwi­ckelte sich eine Stra­ßen­schlacht, wie es sie in Berlin wohl seit 1945 nicht mehr gege­ben hat. Hunderte von Menschen grif­fen die Poli­zei an, mit Stei­nen und Knüp­peln gingen sie auf sie los.

Wir trie­ben sie in ihre Mann­schafts­wa­gen, nach der Zerschla­gung des Festes war die Stim­mung unter den Leuten voller Hass. Immer weiter jagten wir die Bullen vor uns her. Manche von denen rann­ten den bereits flüch­ten­den Mann­schafts­wa­gen hinter­her, schaff­ten es gerade noch rein­zu­sprin­gen. Dann flogen die ersten Mollies an die Wannen, zwei, drei Meter hoch schlu­gen die Flam­men. Zwar wurden jetzt noch Wasser­wer­fer heran­ge­karrt, aber es nutzte nichts mehr. Was nun folgte war Anar­chie pur. Vom Lause­platz bis zum Kott­bus­ser Tor und dem Moritz­platz, über­all wurden jetzt Barri­ka­den gebaut, eine Stre­cke von etwa einem Kilo­me­ter. Autos, die am Stra­ßen­rand geparkt waren, wurden quer­ge­stellt. Wir zogen Bauwa­gen auf die Stra­ßen, warfen sie um und zünde­ten sie an. Aus allen Hinter­hö­fen und Baustel­len wurde nun Mate­rial für den Barri­ka­den­bau heran­ge­schleppt. Müll­ton­nen, Holz­bal­ken, Zement­mi­scher, Gitter, alte Möbel, ausein­an­der geris­sene Bauge­rüste, Rekla­me­ta­feln. Auf jeder Kreu­zung bauten die Leute meter­hohe Barrie­ren. Und das waren längst nicht nur wir Haus­be­set­zer, sondern viele andere Kreuz­ber­ger, die von der Poli­zei die Schnauze voll hatten. Viele Kinder und Jugend­li­che waren dabei, Studen­ten, Türken und Deut­sche, Junge und Alte, Arme, Arbei­ter, Ange­stellte, Alle. Es war ein wirk­li­cher Volks­auf­stand. Während sich die Poli­zei immer weiter aus dem Kiez zurück­zog, über­nah­men wir die Kontrolle.

»An dieses Stra­ßen­fest werden wir noch lange denken!« Tobi war begeis­tert, über­schwäng­lich, und während rings um uns weiter Barri­ka­den gebaut wurden, tanzte er auf der Straße. Nach dem Schreck von vorhin waren wir jetzt total ausge­las­sen. Plötz­lich waren wir stark und die Bullen die Hasen.

Das Zentrum des Riots war die Orani­en­straße. Am Kotti tobten noch Kämpfe, während der Kiez selber schon »befreit« war. Wie auch sonst meis­tens hatten Tobi und ich unsere Tücher um den Hals, das war Mode in der Szene, aber auch ganz prak­tisch. Notfalls konnte man es sich einfach vor’s Gesicht ziehen, um nicht so schnell erkannt zu werden. Auf diese Weise zogen wir unter dem Hoch­haus durch, das die Adal­bert­straße über­spannt, zum Kott­bus­ser Tor. Der Kreis­ver­kehr mit dem Hoch­bahn­hof in zehn Metern Höhe, war voller Menschen. Die wenigs­ten von denen waren vermummt, wahr­schein­lich war auch kaum jemand vorher schon mal an einer solchen Schlacht betei­ligt gewe­sen.

Der gesamte Platz war einge­ne­belt vom Qualm der bren­nen­den Barri­ka­den, die in Rich­tung Wasser­tor­platz errich­tet wurden. Es war ein merk­wür­di­ges Bild: Während Hunderte von Menschen Mate­rial für die Barriere anschlepp­ten, die immer höher wuchs, sah man von dahin­ter nur noch die Spritze eines Wasser­wer­fers. Er gab sein bestes, aber das Feuer konnte er nicht mehr löschen.
Von unse­rer Seite flogen Steine, der halbe Gehweg war bereits auf dem Luft­weg in Rich­tung Poli­zei beför­dert worden. Die revan­chierte sich mit Tränen­gas­gra­na­ten, die im Dutzend auf uns abge­schos­sen wurden.

Mitten in der allge­mei­nen eupho­ri­schen Stim­mung wurde Tobi plötz­lich ganz still.
»Was ist los, hast du Angst?«
»Na ja, meinst du nicht, dass die gleich rich­tig zurück­schla­gen?«
Bevor ich antwor­ten konnte, gab es ein paar Meter neben uns ein großes Geschrei. Drei Zivil­bul­len hatten sich jeman­den gegrif­fen und versuch­ten nun, ihn auf die andere Seite zu brin­gen. Das konnte nicht gutge­hen, denn der Weg war längst versperrt. Die Zivis waren so sehr mit ihrer Verhaf­tung beschäf­tigt, dass sie die Falle gar nicht bemerkt hatten, in der sie längst saßen. Von allen Seiten schlu­gen und traten Leute auf die drei Poli­zis­ten ein, die sich jetzt mit Tonfas zu vertei­di­gen such­ten.
»Warum lassen die Idio­ten den Typen nicht laufen? Sie haben doch gar keine Chance!«

Ein paar Leute versuch­ten, den Fest­ge­nom­me­nen zu befreien, sie zerr­ten an ihm, während andere auf die Bullen einschlu­gen. Plötz­lich zogen zwei von denen ihre Pisto­len und ziel­ten auf die Angrei­fer. In diesem Moment wurde der dritte von einem Stein am Kopf getrof­fen und fiel blutend zu Boden. Nun konnte sich der verhaf­tete Junge befreien und rannte sofort weg. Zu dritt bahn­ten sich die Zivis einen Weg durch die Meute, immer die Waffen im Anschlag, die Todes­angst war ihnen deut­lich anzu­se­hen. Einem wurde noch die Jacke vom Körper geris­sen, dann waren sie verschwun­den.

»Wollt ihr hier nur rum stehen und glot­zen, oder was?« Der Typ, der uns ange­spro­chen hat, hielt eine Holz­kiste in der Hand, in der ein Dutzend Flaschen stan­den, alle mit einem Stück Stoff als Pfrop­fen. »Feuer habt ihr ja hoffent­lich selber.«
Er reichte mir eine Flasche, aber ich nahm sie nicht an. »Was soll ich damit? Ich will die Bullen vertrei­ben, nicht umbrin­gen.«
Der Typ lachte arro­gant und fragte Tobi: »Bist du auch so ein Weichei? Dann geht doch nach Hause zu Mami.«
Tobi fühlte sich in seinem Stolz verletzt und griff nach der Brand­fla­sche.

»Du weißt aber schon, dass man den nach dem Anzün­den wegwer­fen muss, ja?« Der Typ war ein Arsch­loch, das war nicht zu über­se­hen, Außer­dem ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass er auch ein Provo­ka­teur sein könnte, der erst Leute zu Aktio­nen animiert, um sie später verhaf­ten zu lassen. Ohne groß nach­zu­den­ken, nahm ich Tobi den Molly aus der Hand, zog den Stoff heraus und reichte dem Typ die Flasche. Dabei war ich wohl etwas zu schnell, so dass ein großer Schluck Sprit heraus spritzte – genau auf die Jacke des Typen.
»Pass doch auf, du Idiot!«, brüllte er, »das ist Benzin. Willst du mich abfa­ckeln?«
Er wurde total jähzor­nig und hätte er nicht noch die Kiste mit den Mollys in der Hand gehabt, wäre er viel­leicht auch auf mich losge­gan­gen.
»Man, reg dich nicht so auf, Alter!« Plötz­lich war auch Tobi sauer. Er schrie den Typen an, dass er sich verpis­sen solle. In der Zwischen­zeit waren die Leute um uns herum aufmerk­sam gewor­den. Einige nahmen dem Typen Flaschen aus der Kiste, um sie selber zu benut­zen. Mir aber blieb er suspekt und so war ich froh, als er endlich weiter­zog.

Mitt­ler­weile wurde es lang­sam dunkel und erfah­rungs­ge­mäß werden Schlach­ten mit der Poli­zei dadurch noch ange­heizt. So war es auch an diesem Abend. Jenseits der Barri­ka­den am Kott­bus­ser Tor zogen sich die Wasser­wer­fer und Wannen zurück. Plötz­lich war da kein Blau­licht mehr und kein Tränen­gas. Es war, als hätten wir gewon­nen und die feind­li­chen Trup­pen waren geflüch­tet. Ganz falsch war die Einschät­zung nicht, wie wir später aus einem Mitschnitt des Poli­zei­funks erfah­ren haben. Die Wucht des Wider­stands hatte die Poli­zei einfach über­rascht, zudem gab es unter ihnen  auch viele Verletzte.

Hinter dem Hein­rich­platz war was los, das sahen wir bis hier­her. Im Hinder­nis­lauf um die klei­nen und größe­ren Brände herum kamen wir zum Görli.
Der Name Görlit­zer Bahn­hof ist eigent­lich falsch, denn er bezieht sich auf einen Bahn­hof, den es gar nicht mehr gibt. Er lag zwischen der Wiener und der Görlit­zer Straße, also einige hundert Meter weiter östlich, aber durch den Mauer­bau war er vom Stre­cken­netz abge­schnit­ten. Jetzt war er einfach nur Brach­land, das mal zum einem Park mit Schwimm­bad werden sollte.
Am Hoch­bahn­hof Görlit­zer stand auf ’nem Eckgrund­stück ein weiß verklei­de­tes, zwei­stö­cki­ges Gebäude ohne Fens­ter. Der große Super­markt von Bolle, eine wich­tige Einkaufs­quelle für die Bevöl­ke­rung. Und der wurde gerade geplün­dert.
»Kuck mal, Bolle hat heute geöff­net«, grinste Tobi mich an.
»Dann mal nichts wie hin.«

Es war ein über­wäl­ti­gen­des Bild. Die Schau­fens­ter waren zerbro­chen, die Glas­tür exis­trierte nicht mehr. Im Innern sahen wir mindes­tens hundert Leute. Manche hatten gleich die Einkaufs­wa­gen voll­ge­packt und scho­ben sie nach Hause. Die meis­ten hatten irgend­was in den Händen, Würste, Obst, Büch­sen, irgend­wel­che Kartons mit Lebens­mit­teln. Doch nicht das war das Aufre­gende, sondern die Leute selbst. Kaum jemand war ein typi­scher »Szene«-Mensch, sondern es waren die norma­len Nach­barn, die dort plün­der­ten. Viele Kinder und Jugend­li­che, klar. Aber auch Männer Typ Fami­li­en­va­ter, alte Rent­ner mit Einkaufs­wä­gel­chen, ganze türki­sche Fami­lien. Der Alko­hol und die Ziga­ret­ten waren schon weg, als wir in den Super­markt kamen. Über­haupt war alles Teure längst »ausver­kauft«, Käse und Fleisch können sich viele hier ja kaum leis­ten. Ein Pärchen, beide um die Fünf­zig, schlen­derte am Marme­la­den­re­gal entlang. Man sah ihnen an, wie sehr sie es genos­sen, endlich mal nicht auf den Preis schauen zu müssen. Ein paar Kinder legten Milch­tü­ten auf den Boden und spran­gen drauf, damit sie plat­zen und den Inhalt umher­sprit­zen. Ihr Vater kam und brüllte sie an, dass sie lieber mal was Sinn­vol­les machen soll­ten: »Helft Mutti beim Tragen!«
Es war schon eine komi­sche Situa­tion, diese Alltäg­lich­keit mitten in dieser tota­len Anar­chie.
»Weißte was wir jetzt machen,?« Tobi strahlte plötz­lich wie ein Atom­kraft­werk. »Wir holen jetzt auch was. Für Martha.«
»Ja, coole Idee. Ach, die wird sich freuen!«

Martha hieß mit Nach­na­men Pfahl, was ihr im Leben sicher viel Spott einge­tra­gen hat. Jetzt war sie über 80 Jahre alt und lebte in einer klei­nen Einraum-Wohnung im Hinter­haus der Orani­en­straße 169. Wir kann­ten sie, weil wir ihre Neben­woh­nung mal besetzt hatten. Martha war sehr offen und kam gleich mal rüber zum Kucken und brachte sogar Kekse. Tobi und ich besuch­ten sie seit­dem alle paar Wochen mal, wenn es sich gerade ergab. Leider hatte Martha aber einen Sohn, den man nur als böse bezeich­nen kann. Er war Mitte Fünf­zig, BVG-Busfah­rer und quälte seine Mutter oft. Wenn er zu Besuch war, musste sie ihm immer was zum Essen machen, obwohl sie sehr arm war. Aber mitge­bracht hat er ihr nie etwas.

Bei Bolle am Görlit­zer war nun aber nichts mehr zu holen. Wir gingen statt­des­sen wieder zurück in die Orani­en­straße bis zum O‑Platz. Hier gab es auch noch einen Super­markt und viel­leicht kamen wir da ja noch rein.
Tatsäch­lich wurde der Plus-Markt gerade aufge­bro­chen. Der Eingang direkt an der Ecke des ehema­li­gen Kauf­hau­ses war mit einem Metall­rollo gesi­chert. Norma­ler­weise reicht das, Einbre­cher wollen ja leise in den Laden kommen. Dies­mal aber muss­ten wir uns um die Laut­stärke keine Sorgen machen. Das nächste Blau­licht war erst etwa 500 Meter weiter zu sehen, noch hinter dem Moritz­platz. Wahr­schein­lich wurde dort der Stra­ßen­ver­kehr in des Kiez gesperrt.

Anders als der große Bolle-Markt gab es hier keine Schei­ben. Die waren längst gegen Holz­plat­ten ausge­tauscht, weil sie zu oft einge­wor­fen wurden. Und so war es im Super­markt fast dunkel. Da wir in der Gegend wohn­ten, kann­ten wir den Markt ganz gut und konn­ten uns darin eini­ger­ma­ßen orien­tie­ren. Unser Ziel war die Wurst- und Käse­theke, und auch beim Fleisch bedien­ten wir uns reich­lich. Vor der Kasse war das Regal mit dem Alko­hol und so besorg­ten wir auch noch eine Flasche Likör. So voll bepackt zogen wir die hundert Meter zu Mart­has Haus. Die Haus­tür war wie immer offen und auf dem dunk­len Hof sahen wir, dass hinter Mart­has Fens­ter noch Licht brannte.
»Wer ist denn da?« Ihre Stimme klang ängst­lich, nach­dem wir an der Wohnungs­tür geklopft hatten.
»Tobi und ich. Hey Martha, wir haben hier ein paar Geschenke für dich!«
Sie öffnete und schaute uns aus ihrem Morgen­man­tel ungläu­big an. »Um diese Zeit seid ihr noch unter­wegs, Kinder? Na, kommt erst­mal rein.«
Sofort bot sie uns wieder was an, aber dies­mal waren wir an der Reihe.
»Schau mal, was wir dir hier mitge­bracht haben.«

Wir brei­te­ten alles auf ihrem Tisch aus: Jeweils unge­fähr ein Kilo Wurst und Käse, ein paar Schnit­zel und Kote­letts. Tobi zog sogar ein paar Schach­teln Ziga­ret­ten aus der Hosen­ta­sche, die hatte er beim Raus­ge­hen noch einge­steckt. Außer­dem Kekse und Scho­ko­lade.
»Alles für dich, Martha. Nach­träg­lich zum Geburts­tag.«
»Aber ich habe doch erst im Okto­ber Geburts­tag. Habt ihr das etwa gestoh­len?«
Tobi setzte seinen aller­liebs­tes Schwie­ger­sohn­lä­cheln auf: »Ne, Martha. Heute krie­gen wir alle hier im Kiez endlich mal was geschenkt. Ist das nicht toll? Mach dir mal keene Gedan­ken, dies­mal bezah­len die Reichen.«

Martha blieb skep­tisch und kochte uns erst­mal einen Tee. Sie hatte hier hinten gar nichts mitge­kriegt und so erzähl­ten wir ihr, was alles passiert war. Vom Stra­ßen­fest, vom Tränen­gas, von der Gegen­wehr und schließ­lich von den Plün­de­run­gen. Immer wieder fuhr sie erschro­cken zusam­men. »Oh Gott, ist das denn nicht gefähr­lich? Passt bloß auf euch auf, meine lieben Jungs!«
Sie hatte etwas sehr mütter­li­ches, es war schön, dass sie sich um uns sorgte. Beru­hi­gend, als wenn uns dann nichts mehr passie­ren könnte.

Mitt­ler­weile war Mitter­nacht durch und noch immer saßen wir auf Mart­has alter Couch. Vom drit­ten Stock aus schaute man ein Stück­chen hoch zum Dach des Vorder­hau­ses. Vor dem halb­dunk­len Himmel sah ich, wie mehrere Perso­nen geduckt über’s Dach schli­chen. Mehr aber konnte ich nicht erken­nen. Ein paar Minu­ten später plötz­lich Geschrei: »Bleib stehen, du Schwein!«.
Tobi rannte zum Fens­ter, ich löschte erst­mal das Licht. Wir sahen, wie ein paar Gestal­ten mit weißen Helmen über das Dach liefen. Sie waren lang­sam, weil sie auf der Spitze des Schräg­dachs gingen, dort gab es nur schmale Bret­ter für den Schorn­stein­fe­ger. Offen­bar such­ten sie jeman­den.
Und wir sahen ihn: Fest an die Dach­zie­gel gepresst stand er etwa vier Meter unter den Poli­zis­ten in der Regen­rinne. Mein Herz begann Amok zu laufen, immer­hin ist das hier ein altes Haus und ziem­lich herun­ter­ge­kom­men. Dass ausge­rech­net die Regen­rinne  stabil sein sollte, glaubte ich nicht. Es vergin­gen ein paar Sekun­den, bis Tobi reagierte. »Wir müssen ihm helfen! Lass uns nach vorn gehen, viel­eicht können wir was tun.«

Wir wuss­ten, dass die Dach­bö­den mitein­an­der verbun­den sind. Also klet­ter­ten wir nach oben und öffne­ten im Vorder­haus ein Dach­fens­ter. Es war circa einen halben Meter über dem Mann, für ihn also uner­reich­bar. Wir mach­ten eine Räuber­lei­ter, ich klet­terte zur Hälfte aus dem Fens­ter und beugte mich nach unten.
»Komm, halt dich fest, ich zieh dich hoch!«
So leicht war das aber nicht. Wer schon mal 70 Kilo mit einer Hand heben wollte und dabei kopf­über aus einem schrä­gen Dach­fens­ter gehan­gen hat, weiß, was ich meine.

»Ey Leute, ihr habt mir echt das Leben geret­tet. Diese scheiß Rinne hat mich kaum gehal­ten.«
»Was suchst du dir auch so einen blöden Weg aus zum Spazie­ren­ge­hen.«
Tobi über­traf sich mit seiner Komik wieder mal selbst.
Der da vor uns stand war kaum älter als wir. Mitte zwan­zig, komplett schwarze Klamot­ten und um den Hals ein schwarz­wei­ßes Palli­tuch. Diese »PLO-Tücher« waren sehr prak­tisch, man konnte seinen Kopf darin komplett verhül­len.
Der miss­glückte Stra­ßen­kämp­fer erzählte, dass er vom Dach Steine und Ziegeln auf die Poli­zei gewor­fen hatte.

»Bist du bekloppt?«, brüllte Tobi ihn an. »Damit kannst du doch jeman­den töten!«
»Na und, es sind doch nur Bullen man, keine Gnade.«
Auch ich wurde total wütend. »Hast du keine Achtung vor dem Leben ande­rer Menschen? Was bist du – ein Nazi?«
Der Typ schrie, dass wir wohl wohl blöde Okös seien und am besten nach Hause zu Mami gehen sollen.
Tobi hatte vor Wut einen hoch­ro­ten Kopf, noch nie vorher hatte ich ihn so sauer gese­hen.
»Wir hätten dich fallen lassen sollen, du Arsch!«
»Auf welcher Seite steht ihr eigent­lich?«, fragte der Typ und versuchte, dabei ganz lässig auszu­se­hen. Aber er war noch immer sehr blass, soweit man das in dem schumm­ri­gen Dach­bo­den erken­nen konnte.
Tobi und ich waren sehr erschüt­tert über die Menschen­ver­ach­tung dieses Typen. Mit solchen woll­ten wir nichts zu tun haben. Hatten wir aber, jeden­falls an diesem Abend. Wütend verlie­ßen wir alle den Dach­bo­den.

Ganz kurz schau­ten wir noch bei Martha rein und verab­schie­de­ten uns.
»Wir kommen morgen noch­mal vorbei und erzäh­len dir dann, was heute noch war.«
»Oh Gott, oh Gott, passt auf euch auf, Kinder!« Sie tat mir leid, weil sie wirk­lich um uns besorgt war. Gleich­zei­tig wollte ich aber raus und nach­schauen, was noch passierte. Aber wir kamen nicht weit.

Kaum stan­den wir auf der Orani­en­straße, rannte von rechts ein Rudel Bullen auf uns zu. Sie hatten keine Schilde dabei und wir wuss­ten, was das bedeu­tet: Diese Gruppe gehörte zum SEK. Das Sonder­ein­satz­kom­mando ist dafür da, in Situa­tio­nen einzu­grei­fen, die für normale Poli­zis­ten zu gefähr­lich sind. Zum Beispiel bei Bank­über­fäl­len oder Geisel­nah­men. Diese Bullen ließen sich mit ein paar Stei­nen nicht aufhal­ten, als Selbst­schutz reichte der Helm. In den Händen hatten sie statt Schil­den und Knüp­pel kleine schwarze Tonfas. Das sind Holz­knüp­pel mit einem Quer­griff, mit dem man nicht nur einfach zuschla­gen kann. Wer damit umge­hen kann, wirbelt ihn durch die Luft oder sticht auf kurze Distanz mit dem stump­fen Ende auf einen ein. Später erfuhr ich, dass sie in dieser Nacht jeman­den genau so ein Auge ausge­schla­gen haben.

Wenn ein Dutzend solcher Leute auf einen zu rennt, hilft nicht viel. Kämp­fen ist sinn­los, aber verprü­geln lassen woll­ten wir uns auch nicht. Von der ande­ren Seite sahen wir Blau­licht, dieser Weg war also eh versperrt.
»Das Lager!«, rief Tobi und rannte zwei Häuser weiter auf den Hinter­hof. Erst in diesem Moment dachte ich an die versteck­ten Molo­tow-Cock­tails auf dem Hof der 167. Wir wuss­ten, dass es dort unter einer Metall­platte versteckt ein klei­nes »Waffen­la­ger« gab. Es war nicht das einzige im Kiez, eine ganze Reihe von Höfen, leer stehen­den Wohnun­gen, Kellern und Dach­bö­den waren so präpa­riert. Mollies, Steine, Zwil­len mit Stahl­mut­tern waren so breit­flä­chig versteckt, genau für solche Situa­tio­nen. Manche, wie das Lager im Hof der Oranien 167, lagen sogar taktisch sehr gut, was jetzt ein riesen Glück für uns war.

Wir rann­ten durch das dunkle Vorder­haus auf den Hof, uns war klar, dass wir nur ein paar Sekun­den Vorsprung haben.
»Wo ist diese scheiß Platte?«, zischte Tobi.
»Man, direkt neben der Keller­treppe!«
In diesem Moment sahen wir schon, wie vorn die Haus­tür auf ging, die ersten weißen Helme waren zu sehen. Die Poli­zis­ten rann­ten aber nicht ins Dunkel, sondern taste­ten sich vorsich­tig zur Hinter­tür. Sie hatten wohl schon ihre Erfah­run­gen gemacht und sind viel­leicht mal in einer Falle gelan­det. Manch­mal werden kleine Grüpp­chen von Poli­zis­ten in Höfe oder in ein Haus gelockt und dann von allen Seiten mit Stei­nen und Knüp­peln ange­grif­fen.

Die Sekun­den der Vorsicht gaben uns die Zeit, die dicke Blech­platte zur Seite zu heben. Darun­ter kamen etwa ein Dutzend Mollies zum Vorschein, die aller­dings noch nicht »scharf« waren. Man musste den um den Flaschen­hals gekno­te­ten Stoff ja erst­mal in Benzin trän­ken. Das sollte vorsich­tig und lang­sam gesche­hen, damit das Benzin nicht über die ganze Flasche läuft. Sonst brennt die nämlich beim Anzün­den gleich mit. Aber diese Zeit hatten wir jetzt nicht.

Jeder von uns nahm sich zwei Mollies und wir rann­ten ein paar Meter nach hinten. Hier war eine zwei Meter hohe Mauer, hinter der ein weite­rer Hof lag. Über den konnte man quer durch den Block rennen und kam dann in der Dresd­ner Straße raus. Das hatten wir vor. Aber als wir nach hinten zur Mauer rann­ten, kamen die ersten Bullen auf den Hof und brüll­ten gleich: »Hier sind sie!«
Tobi sprang ohne sich fest­zu­hal­ten auf eine der Müll­ton­nen, die an der Mauer stan­den. Dabei fiel ihm eine Flasche aus der Hand und sie zerbrach am Boden. Ich bückte mich und tunkte den Stoff meiner beiden Mollies in die Benzin­pfütze. Tobi war schon auf die Mauer geklet­tert, da rann­ten die Poli­zis­ten von hinten auf mich los.

»Fang!«, schrie ich Tobi an und warf beide Flaschen zu ihm hoch. Dies­mal hatte er mehr Glück und beide Mollies blie­ben heil. Ich klet­terte die Müll­tonne hoch, während er mit seinem Feuer­zeug die Lunte von einem der Brand­sätze anzün­dete. Gerade als ich mich auf die Mauer­krone hoch zog, erreichte mich der erste Bulle und hielt mich am Bein fest. Ich sah zu Tobi und schrie: »Schmeiß doch, man!« und er warf den Brand­satz auf den Boden. Eine Sekunde später stand unter mir alles in Flam­men. Der Mollie entzün­dete auch das Benzin der vorher zerbro­che­nen Flasche. Die Flam­men loder­ten sofort einen halben Meter hoch. Ich merkte, wie der Poli­zist mein Bein los ließ und in die andere Rich­tung rannte. Bloß weg aus dem Feuer! Die ande­ren blie­ben stehen, einer trat an der brenn­den­den Hose des Bullen die Flam­men aus. Dann ließ sich Tobi auch schon auf der ande­ren Seite der Mauer runter.

Ich sprang hinter­her. Wir rann­ten über den Hof, woll­ten durch’s Hinter­haus nach vorn flüch­ten. Kaum öffne­ten wir die Tür, sahen wir einen bulli­gen Kerl vor uns. Irgend­ein Bewoh­ner von der Sorte »Müll­kut­scher«, dieje­ni­gen, die Volkes Stimme auch mal mit der Faust Nach­druck verlei­hen. Er griff sich Tobi und hielt ihn am Kragen fest. Mit der ande­ren Hand versuchte er, mich zu packen. Ich nahm Tobi den Mollie aus der Hand und schlug ihn dem Bär auf den Kopf. Die Kopf­haut riss auf und der Mann brüllte wie wahn­sin­nig, sicher auch, weil das Benzin in die Wunden kam. Aber wenigs­tens ließ er Tobi los.

In diesem Moment sah ich, wie zwei der Bullen über die Mauer stie­gen und auf uns losrann­ten.
»Gib Feuer!«, schrie ich und Tobi warf unse­ren letz­ten Mollie in den Durch­gang zum Hof.
Hinter den Poli­zis­ten dann der bren­nende Eingang, im Flur der hilf­los schrei­ende Müll­typ, man kann nicht sagen, dass wir beson­ders unauf­fäl­lig waren. Aber wenigs­tens verfolg­ten uns die beiden Bullen nicht mehr.
Nach einem kurzen Sprint durch’s Vorder­haus öffne­ten wir leise die Tür zur Dres­de­ner Straße 16 und lugten heraus. Hier waren keine Bullen, aber links und rechts sahen wir an den Häuser­wän­den blaue Lich­ter zucken. Offen­bar war am Kotti und am O‑Platz schon die Poli­zei und kurz darauf sahen wir dort auch mehrere Wannen sich lang­sam vortas­ten. Sie scho­ben die längst ausge­brann­ten Barri­ka­den zur Seite.

»Lass uns versu­chen, nach Hause zu kommen. Genug für heute.« Ich nahm Tobis Vorschlag gerne an.
Aber so leicht war das mit dem Rück­zug nicht. Denn zwischen uns und der Adal­bert­straße stand jetzt der Feind. Also pack­ten wir unsere Hals­tü­cher in die Hosen­ta­sche, setz­ten die harm­lo­ses­ten Unschulds­mie­nen auf und mach­ten uns auf einen weiten Umweg, rund um den Kiez, an der Mauer entlang bis zur Adal­bert­straße.

Am nächs­tens Morgen spazier­ten wir durch den Kiez. Es sah aus wie im Kriegs­ge­biet. Fast alle Schau­fens­ter waren einge­wor­fen, selbst die klei­nen Läden aufge­bro­chen und geplün­dert. In den Türen stan­den vezwei­felte Inha­ber, manche wein­ten, andere waren wütend. Den meis­ten aber sah man ihre Ratlo­sig­keit an.
Am Stra­ßen­rand war genau zu erken­nen, welche Autos schon in der Nacht dort gestan­den haben. Sie waren entwe­der völlig zerbeult, mit einge­wor­fe­nen Schei­ben oder sogar ausge­brannt.
»Ist dir klar, dass wir das waren?«, fragte ich Tobi. Mir ging es plötz­lich dreckig, denn wir hatten ja die Poli­zei, den Staat, die Reichen als Ziel unse­rer Angriffe. Getrof­fen wurden aber fast nur die einfa­chen Leute.

»Das waren wir nicht, nur ein biss­chen. Wir waren ja nur dabei.«
»Klar, alle waren nur dabei. Wie damals in der Reichs­kris­tall­nacht.«
Tobi sah mich entsetzt an: »Bist du bescheu­ert? Was haben wir mit den Nazis zu tun?«
Mir war auf einmal wirk­lich zum Heulen. »Viel­leicht mehr, als uns das klar ist.«
»Quatsch! Die Nazis haben Juden ermor­det oder denen die Schei­ben einge­schmis­sen, das ist doch was ganz ande­res. Außer­dem kämp­fen wir nicht gegen ’ne Minder­heit, sondern gegen Nazis!« Seine Argu­mente wurden immer verwor­ren­der.
»Sind die Faschos keine Minder­heit mehr? Gehö­ren die Läden hier etwa alle den Nazis?«

Das Schlimme an der Diskus­sion war ja, dass ich das alles kenne und eigent­lich genauso rede.
»Wir haben noch nie mal so rich­tig darüber gespro­chen, warum wir das machen und was wir errei­chen wollen.«
»Na, ist doch klar: Wider­stand!« Tobi begriff nicht, was ich meinte. Kein Wunder, ich stellte ja plötz­lich auf einmal alles in Frage, was bisher anschei­nend klar war. Doch der Anblick dieser Zerstö­run­gen hat mir regel­recht die Augen geöff­net.
»Aber wenn wir keinen Unter­schied mehr machen zwischen einer Nazi­kneipe und ’nem Klamot­ten­la­den…«

»Was hast du denn auf einmal?«, fiel mir Tobi ins Wort. »Wirst du jetzt ein Hippie oder was? Es war doch geil letzte Nacht, die Barri­ka­den und so. Wann erlebt man das schon mal?«
»Darum geht es doch gar nicht! Wir sind doch keine Hooli­gans, die sich nur wegen der Action prügeln, oder? Ich hab eigent­lich schon ’nen poli­ti­schen Anspruch.«
»Poli­ti­scher Anspruch. Ja toll. Ich nicht, oder was? Ey, wir sind der Wider­stand, kapierste das nicht? Der Kiez gehört uns, die Bullen sollen sich hier raus­hal­ten. Und die Haus­be­sit­zer sollen sich verpis­sen. Ist das viel­leicht nicht poli­tisch?«
»Und was haben die klei­nen Läden damit zu tun?« So eine Schau­fens­ter­scheibe kostet bestimmt tausend Mark. Daran kann so einer pleite gehen.«

Tobi sah aber jedes Argu­ment als persön­li­chen Angriff, obwohl es ja gar nicht so gemeint war. Es ging ja auch gegen mich selbst und meine eigene Igno­ranz. Ich merkte, dass plötz­lich etwas zwischen uns stand. Wir hatten uns auch vorher manch­mal gestrit­ten, aber dies­mal ging es tiefer. Wir sahen uns ja als poli­ti­sche Menschen, aber waren nicht in der Lage, auch so zu disku­tie­ren. Viel­leicht auch deshalb, weil nicht viel dahin­ter steckte. Waren wir nicht doch eher Hooli­gans?
Schwei­gend gingen wir die Orani­en­straße weiter.

»Lass uns kurz bei Martha vorbei­ge­hen«, schlug ich vor.
»Ne, keine Lust.« Tobi war immer noch sauer.
Also stieg ich allein die drei Stock­werke nach oben und klopfte. Es war aber nicht Martha, die mir öffnete, sondern ihr Sohn. Und der zog mich sofort in die Wohnung und schlug mir ins Gesicht.
»Da ist ja einer dieser Chao­ten! Euch sollte man alle verga­sen, wie damals!«, brüllte er und schlug wieder zu. Im Affekt trat ich ihm mit voller Wucht zwischen die Beine und offen­bar hab ich gut getrof­fen. Winselnd ging er zu Boden.
Dann sah ich Martha, zusam­men­ge­sun­ken auf ihrer Couch. Sie hatte wohl geweint und wischte sich gerade das Gesicht trocken. Ich beugte mich sofort zu ihr.
»Was ist denn los? Hat er dich geschla­gen?«, wollte ich wissen.
»Nein«, schluchzte sie, “aber ange­schrieen. Und alles wegge­schmis­sen, was ihr mir gestern gebracht habt.” Sie zeigte zum Müll­ei­mer, wo der Käse und das Fleisch raus­schau­ten. Ich nahm alles raus, machte es wieder sauber und legte es auf ihren Küchen­tisch.
Dann nahm ich mir ihr Nudel­holz und ging zu ihrem Sohn.

»Wenn du nicht sofort die Wohnung verlässt, schlage ich dir den Schä­del ein!«
Er schaute mich mit einem hass­ver­zo­ge­nen Gesicht an, rutschte dann aber zur Wohnungs­tür. Aufste­hen konnte er noch nicht. Als er drau­ßen war, schloss ich die Tür und ging zu Martha. Sie war noch immer sehr aufge­regt.
»Wie kann eine so liebe Frau nur mit so ’nem bösen Jungen gestraft sein«, sagte ich. »Nimm’s mir nicht übel, aber das denke ich wirk­lich.«
»Ach Junge, du hast ja recht. Aber was soll ich denn machen? Manfred ist doch nun mal mein Sohn.«
Wir saßen dann noch über eine Stunde zusam­men und rede­ten. Über ihr Leben, über den Sohn, über Tobi und mich. Ich erzählte ihr von meinem schlech­ten Gefühl, was die Plün­de­run­gen der klei­nen Läden anging.

Als ich ging, drückte sie mich eng an sich. Es war das erste Mal. Und das letzte Mal, dass wir uns sahen. Als ich sie eine Woche später besu­chen wollte, sagten die Nach­barn, dass Martha zwei Tage vorher gestürzt war. Sie hatten sie ins Urban-Kran­ken­haus gebracht, wo sie nach ein paar Stun­den gestor­ben ist. Ich bin dann dort hin, wollte wissen, wo sie beer­digt wird. Aber man wusste es nicht. Ich habe es auch nicht mehr erfah­ren.

print

Zufallstreffer

Weblog

Deutsch-Prüfung

Jetzt ist es klar: Auslän­der, die die deut­sche Staats­bür­ger­schaft erlan­gen möch­ten, müssen am Septem­ber einen Sprach­test machen. Von 33 Fragen müssen mindes­tens 17 korrekt beant­wor­tet werden. Man kann unter mehre­ren Möglich­kei­ten auswäh­len, hat also auch […]

4 Kommentare

  1. @ kex
    Sowie ich mir ein Bein gebro­chen habe und damit genug Zeit, ihn endlich zu Ende zu schrei­ben :-(

    @ Sash
    :-)

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*