Jung-Rudel

Der Mensch ist ein sozia­les Wesen und somit ein Herden­tier. Das merkt man in Berlin beson­ders in der Nähe von Hostels und Sehens­wür­dig­kei­ten. Vor allem Jugend­li­che aus fernen Dörfern bevöl­kern das Terrain, gern in einer Laut­stärke, die den Verdacht aufkom­men lässt, man wolle damit die Gefahr der Groß­stadt vertrei­ben. Wenn das Schreien dutzen­der Stimm­brü­chi­ger selbst den Auto­lärm am Pots­da­mer Platz über­tönt, ist das schon beacht­lich.

Der Berlin-Besuch gehörte ja schon zu Mauer­zei­ten zum belieb­ten Pflicht­be­such der jungen Menschen aus “Wessi­land”, so mancher männ­li­cher Jugend­li­cher erkun­dete dabei gleich mal die Möglich­keit, nach Abschluss der Schul­zeit vor der Bundes­wehr nach West-Berlin zu flüch­ten. Dieser Teil der Stadt war damals auch Ziel west­deut­scher Treber, also von Jugend­li­chen, die von Zuhause ausge­ris­sen sind. Man verab­re­dete mit Freun­den, offi­zi­ell gegen­sei­tig bei dem ande­ren zu schla­fen und hatte dann einige Stun­den Zeit, um durch die Grenz­kon­trol­len nach West-Berlin zu reisen. Wenn die Eltern am nächs­ten Tag den Coup entdeckt hatten, war man in Kreuz­berg oder Wedding rela­tiv sicher verbor­gen.

Aber die heutige Jugend geht ja nicht mehr auf Trebe. Sie läuft mit einer geöff­ne­ten Flasche Bier in der Hand betont lässig über den Pari­ser Platz, macht Lärm und mit dem Handy Fotos. Lehrer, soweit über­haupt vorhan­den, sind meist nicht in der Lage, selbst so wesent­li­che Dinge durch­zu­set­zen wie das Stehen­blei­ben an einer roten Ampel­kreu­zung. Dabei wäre das z.B. am Pots­da­mer Platz eigent­lich eine ganz gute Über­le­bens­stra­te­gie, doch viele Jung­hirne sind offen­bar noch nicht so weit ausge­reift, um das zu verste­hen. Oder sie denken, zuhause in der Dorf­straße hört man ja, wenn ein Trecker kommt, da muss man auch nicht extra aufpas­sen. Wahr­schein­lich aber ist es das Spiel, wer am cools­ten ist.

So auch gestern Abend, am Harden­berg­platz vor’m Bahn­hof Zoo. Die Fußgän­ger­am­pel springt genau in dem Moment auf Rot, als der erste von viel­leicht 30 Frisch­lin­gen in Alter von rund 16 Jahren die Fahr­bahn betritt. Wie meis­tens bedeu­tet das für alle Folgen­den, eben­falls weiter­zu­lau­fen, möglich hinter­ein­an­der, damit der Letzte dann viel­leicht noch das erste Grün erwischt. Jeden­falls fuhr ich lang­sam an, aber ohne jeman­den zu gefähr­den. Der Leit­ham­mel, ein recht groß gewach­se­ner Lulatsch von bestimmt 1,90 Metern, meinte darauf­hin umkeh­ren zu müssen und brüllte mich in schöns­tem Schwä­bisch an, was ich doch für ein Dorf­trot­tel sei. Durch das offene Fens­ter antwor­tete ich: “Das sagt ja der Rich­tige. Und jetzt verschwinde von der Fahr­bahn, ihr habt Rot.” Er schlug mit der Hand auf das Auto­dach und brüllte: “Du Arsch­loch!” Damit war meine Tole­ranz­grenze erreicht. Ich stieg aus, zog ihn am T‑Shirt-Kragen zu mir runter (ich bin ja nur 1,70 groß) und schrie ihn an: “Was willst Du? Du kannst gerne Ärger haben.” Einige der ande­ren misch­ten sich verbal ein, kamen aber nicht näher. Ich drückte den Jungen gegen das Auto und plötz­lich fing er an zu heulen. Mit dieser Reak­tion hatte ich nun nicht gerech­net, seine Kumpels aber auch nicht: “Jetzt flennt er…” rief einer von hinten.

Da ich ihm ja nichts tun wollte, ließ ich ihn wieder los und sagte ihm, er sollte mal sein klei­nes Gehirn einschal­ten, denn von ande­ren Leuten hätte er jetzt schon längst eine Faust im Gesicht gehabt. Nun mischte sich auch der Lehrer ein, der sich bisher schön im Hinter­grund gehal­ten hatte. Ich sollte doch “den Marco in Ruhe lassen” und warum ich über­haupt so aggres­siv wäre. Offen­bar hält er das Verhal­ten seines Schütz­lings für gerecht­fer­tigt, dage­gen aber nicht, dass es darauf eine Reak­tion gibt. Ich antwor­tet ihm nicht, sagte nur: “Jetzt könnt Ihr über die Straße, los.”

Nun bin ich ein Mensch, der sich gar nicht so schnell aufregt und schon gar nicht gleich hand­greif­lich wird. Ande­rer­seits lasse ich mich auch nicht gerne von solchen Mackern runter­ma­chen, auch wenn sie noch Puber­tiere sind. Auch ich musste in diesem Alter erst­mal meine Gren­zen auskund­schaf­ten und habe das mit eini­gen blauen Augen bezahlt. Inso­fern war das gestern eine noch recht gewalt­freie Lektion in ange­wand­ter Lehre des Verhal­tens im öffent­li­chen Raum. Viel­leicht hat er es kapiert, dann war meine pädago­gi­sche Maßnahme erfolg­reich: Lege Dich nicht mit Taxi­fah­rern an, die bellen nicht nur, sondern beißen auch!

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4 Kommentare

  1. Nette Geschichte, viel­leicht hat der Knabe auch was gelernt.
    Das erin­nert mich an meinen ehema­li­gen Schul­weg. 2 große Schu­len mit über 2000 Schü­lern: zum Schul­schluss mittags gegen 1 Uhr ergiesst sich ein Strom junger Menschen zur U‑Bahn über eine nur 2‑spurige Haupt­strasse. Dass vor etli­chen Jahren dort eine Druck­knopf­am­pel aufge­stellt wurde, hat die Situa­tion nicht wesent­lich verän­dert. Manche Auto­fah­rer hupen, die meis­ten sind gedul­dig und ich sehe es noch immer ähnlich wie damals: wenn hundert oder mehr Menschen über die Strasse wollen, dann können ein oder zwei Dutzend Auto­fah­rer auch mal kurz warten.
    (Vergleich­bar sind die beiden Geschich­ten schon von den Zahlen­ver­hält­nis­sen nicht.)

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