Freiheit bis Fester

Mit der U2 von Gleisdreieck – wenige Fußminuten von unserer Redaktion – bis Ruhleben: fünfundzwanzig Minuten klassische U-Bahnstrecke. Auf dem hohen Ruhlebener Bahnsteig fängt es mit einem Panorama der Freiheit an. Die Freiheit liegt nördlich. Dazwischen die ruhelose Charlottenburger Chaussee und „Sonnenschein“: ruhige Kleingärten.
Das Panorama der Freiheit bilden niedrige Hallen und hohe Schlote, östlich der Meiler des Kraftwerkes Ernst Reuter: die Freiheit produziert Wolken, Heiz- und Industriewolken, die aufsteigen zu ihren naturgeborenen Geschwistern, die heute den Himmel herabziehen. Der schönste Schlot steht auf dem Gelände von Donn; als ob es ein Turm wäre mit Fenstern oben, an der Krone bewachsen und begrünt, in seiner vielfachen Backsteinfarbigkeit, unten heller, dunkler oben: er spricht mit den Wolken, die nicht bei ihm verweilen; eine weiche, etwas chemisch aussehende macht aber den Eindruck, als wolle sie ihn besuchen.
Auf der anderen Seite vom Bahnsteig liegen leichte Hügel, herbstliches Parkgelände, „Zum Krematorium“. Mit der Rolltreppe sinkt man steil aus dem Bahnhof heraus, dem 231er direkt in die Arme.

Der Bus fährt mich unter der Wiesendammbrücke hindurch, über die der ICE gerade in diesem Augenblick hinzieht in seiner kraftvollen Eleganz, die sich silbrig von uns abschließt, an der Müllverbrennungsanlage vorbei, einer der größten in Europa, in die Freiheit: eine weite, breite Straße, biegungs- und bogenlos, links die Bahn und die „Eisenbahnlandwirtschaft Unterbezirk Spandau“: Kleingärten, Kolonie; rechts (und auch links ein bisschen) Industrie, das Klärwerk, das 250.000 Kubikmeter Dreckwasser täglich in Reinheit verwandelt; Ziegenbein: Luftheizanlagen; Kampfmittelräumung; Mineralöltransport; Seil- und Hebetechnik; Akustikdeckenherstellung und -installation, Trockenunterböden. Der Imbiss inmitten heißt mit St.-Pauli-Anklang „Große Freiheit 35“, Superpreise, die Lastwagenfahrer auf der Rasestraße halten extra an, jetzt der „Spezialist für Gastransporte“, Bockwurst, Curry mit und ohne, Bratwurst als Curry, kleingeschnitten.
Von da ist es nicht mehr weit bis Nr. 43. Filta Lufttechnik. Gestern war Manne Jagusch hier, unser Fotograf; einer der Chefs von Filta hat ihm aufgeschlossen, ein freundlicher Mann, beschlagen, er weiß Bescheid. Heute ist er nicht da. „Nee“, sagen die Damen, die auf mein Klingeln die Barackentür aufdrückten, „nee, hier iss nüscht“.
„Aber gestern, als der Fotograf da war, war es noch da.“
„Ja, stimmt, ein Fotograf war da.“
Ohne Auto ist hier auf der Freiheit niemand. Aber: hundert Jahre zurück … denke dich ein Jahrhundert zurück! Die beiden Baracken hier, die nichts sind für die, die jetzt drinnen arbeiten, das ist der Rest des großen Auswandererbahnhofs, von 1891 bis 1914 ein Ort für Hunderttausende. Von Osten nach Westen. Und über das Meer. Aus Not und Verfolgung durch die „Freiheit“ in die Freiheit. Diese Spandauer Freiheit wird damals ein breiter staubiger Feldweg gewesen sein, vorne eine Trabrennbahn für die Feinen, Hunderte und Hunderte Tag für Tag ziehen heraus, vom Schlesischen, Stettiner Bahnhof, zu Fuß durch ganz Berlin, wenig zu essen, nur unorganisierte Plätze für die Notdurft, täglich zwei Züge von Stresow-Spandau nach Hamburg, von Hamburg aufs Meer. Georges Perec und Robert Bober, die Nachhaltigen, haben ein Buch über Ellis Island geschrieben und bebildert: ein Wasserbahnhof vor New York mit Barrieren und Gittern: der Eingang ins gelobte Land, Gottes eigenes Land, dessen Verfassung nicht beginnt mit „Wir, Wilhelm (Otto, August, Friedrich) von Gottes Gnaden“, zwar auch mit „wir“, aber „We, the People“, wir, das Volk … ach, ein Stück dieses Volkes sein dürfen! 1846 bis 1850 fast 480.000 Auswanderer, 1881 bis 1890 fast 6,5 Millionen, 1901 bis 1910 11,6 Millionen, siebzig Millionen Auswanderer aus Europa vom Anfang des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, die meisten nach USA.

Aus Radomizl, zum Beispiel von dort, nach Spandau, nach Hamburg, nach Ellis Island, altes Europa, neues Amerika. „Mein Vater war noch vor seinem siebten Geburtstag ganz allein mitten aus Polen nach New York gekommen. Jetzt hatte er einen National mit Chauffeur, der jeden Morgen am Bordstein auf ihn wartete. An einer solchen Verwandlung war nichts Merkwürdiges, nicht einmal etwas Bemerkenswertes“, schreibt Arthur Miller.
„Die Straße heißt Freiheit, weil: hier fing die Freiheit an“, sagt der Chef von Filta. Bis 1913 war der Freiheitsbahnhof offen, 114.000 Benutzer allein in diesem Jahr, ehe Europa mit seinem jahrzehntelangen Selbstmordversuch begann. Die Freiheit läuft an der Hamburger Bahn entlang. Der Bahnhof, den die Bahn AG gegenüber dem postmodernen gläsernen Turm der Freiheit“ am Ende der „Freiheit“ restauriert, ist mit der Hamburg-Berlin-Bahn entstanden, 1846, gleichzeitig mit dem stilbildenden, fahnenschwingenden Gebäude an der Invalidenstraße, in dem ein Baulöwe sich zum Kunstmäzen gezähmt hat: die Stars der Moderne sind Amerikaner, manche waren vorher Europäer.
Wo die Freiheit endet und als Stresowstraße um die Ecke biegt, wohnt der klarste Ausländerpolitiker Berlins, ein Goethe-Kenner von Graden, der auswendig die Sätze hersagen kann, die der Halbgott aus Weimar dichtete über Amerika, das es besser hat. Dann kommt bald die blaue Brücke, Charlottenbrücke, über die Spree. Die Straße unten heißt Schiffbauerdamm mit größerem Recht als die andere an berühmterer Stelle; rechts die Reste der Geschützfabrik, älter als der Auswandererbahnhof, eine gewesene Mordwerkstätte, es gibt Zusammenhänge.
Die Altstadt Spandau beginnt mit ihrer neuen Freundlichkeit und alten Geruhsamkeit. Bis hierher, wo Heimat ist, kamen die Auswanderer nicht. Sie mussten erst fahren und suchen.
Zweihundert Meter bis Fester – Spandau Markt – die Familienkonditorei. Von draußen Musik. Es fällt mir richtig schwer aufzustehen und nicht Stunde um Stunde sitzenzubleiben. Die Damen am Nebentisch waren schon da, als ich kam, sie sehen so aus, als blieben sie noch ein Weilchen.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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