Draußen in Brunsbüttel, drinnen in Spandau

Es ist eine Reise. Eigent­lich ist es keine Reise; ich habe bloß das Reise-Gefühl.
Das Gefühl fängt hinter Wilmers­dor­fer Straße an. An dieser Station verän­dert sich die Stim­mung in der U7. Noch zwan­zig Minu­ten. Ich bin auf der Reise nach Span­dau; es ist ein ange­neh­mes, kulti­vier­tes, urba­nes Gefühl. Viele Lese­rin­nen und Leser sind im Wagen. Die Auto­ma­ten­stimme, die die Statio­nen ansagt, wirkt plötz­lich vornehm; “Rohr­damm”, sagt sie wie eine Verhei­ßung. Ich bleibe aber bis Span­dau, Rathaus. Schließ­lich bin ich im Wagen allein. Die Minute von Altstadt bis Rathaus versetzt mich in das träu­me­ri­sche Gefühl, das ich aus der Eisen­bahn kenne: was kommt, ist im Nu vorbei, man zieht vorüber, sogar die Zeit bleibt zurück, es ist wie der Augen­blick, in den die Augen eben nicht blicken können, kurz vor dem Einschla­fen vor einem neuen Tag, auf den man sich freut.

An der weit­räu­mi­gen Bussta­tion gegen­über dem Rathaus ist die Wirk­lich­keit. Ich warte auf den 132er. Acht Part­ner­städte hat Span­dau; von drüben kann ich die Wappen am Rathaus sehen. Hoffent­lich kommen viele Normal­men­schen von hier in diese Part­ner­städte und viele von dort hier­her, und nicht nur die Offi­zial-Dele­ga­tio­nen. Sieben­und­sieb­zig und einen halben Meter ist der Rathaus­turm hoch, das Rathaus ist gebaut “unter der Regie­rung Kaiser Wilhelms II.”, hoffent­lich wissen viele Span­daue­rin­nen und Span­dauer, was das für ein Kerl war; ich bin für Tilgung seines Rathaus­na­mens, statt dessen schriebe ich an den Giebel Arti­kel 1 Absatz 1 des Grund­ge­set­zes, dass jeder, der drüben steht und ein biss­chen Zeit hat, weil er auf einen Bus wartet, liest: Die Würde des Menschen ist unan­tast­bar. Sie zu achten und zu schüt­zen ist Verpflich­tung aller staat­li­chen Gewalt.
Die lange Glas­halle des Bahn­hofs, der eben fertig wird, sieht aus wie auf alten Bildern die Luft­schiff­hal­len. Am Kiosk gibts “Span­dauer ohne Pelle”, davor stehen drei frie­rende Span­dauer, die Dosen­bier trin­ken. Von drüben ziehen Weih­nachts­markt­ge­rü­che herüber.
Da ist der gelen­kige 132er da. Die Stim­mung hier­in­nen machen sechs Schul­kin­der, 12-Jährige viel­leicht, auf dem Heim­weg, in der gelo­cker­ten Laune, die die Schule dadurch schafft, dass sie zu Ende ist. “Summand plus Summand gleich Summe, Faktor mal Faktor gleich Produkt”, ruft der kleine Schwarz­haa­rige, die ande­ren wieder­ho­len es wie einen Tanz­reim: Faktor mal Faktor gleich Produkt”, einige Erwach­sene lächeln als ob sie sich erin­ner­ten, andere tun so, als hätten sie nichts gehört, und also hören sie auch nicht, dass der dick­li­che Kleine, dem man manches zutraut, den Satz trom­pe­tet: “Trak­tor mal Trak­tor gleich Produk­tion”, da bin ich sicher, dass die Kinder nicht am Päwe­si­ner Weg ausstei­gen wie ich, sondern weiter­fah­ren.

Auf dem Bruns­büt­te­ler Damm habe ich ein Gefühl von Allei­nig­keit. Die Menschen rasen in ihren Autos vorüber. Der Damm ist schnur­ge­rade. Ich stehe auf dem Mittel­strei­fen. Ganz hinten verschwin­det der 132er im grauen Dezem­ber. Kein ande­rer Fußgän­ger einige Zeit lang. Meine Lebens­freun­din hat ein Häus­chen an der Süder­elbe; drüben kann man im Sonnen­licht (und sogar noch bei Nebel) die silb­rig-weißen Wind­rä­der sehen, aber auch das Kern­kraft­werk. Das ist Bruns­büt­tel. Als ob der 132er dort­hin unter­wegs sei. Die wahren Reisen sind Kopf­ereig­nisse.
Nach­her, wenn ich noch über den Weih­nachts­markt gegan­gen sein und zwei Brat­würste geges­sen haben werde, werde ich vom Bahn­hof Altstadt in zwei­und­drei­ßig Minu­ten bis Möckern­brü­cke fahren, Tempel­ho­fer Ufer, Kreuz­berg, und in dem Haus Nummer 23/24 werde ich anfan­gen, diesen Text zu schrei­ben: Das Haus wurde Ende des Ersten Welt­krie­ges, 1919, gebaut, von der U1 sieht man es hoch­gie­be­lig dalie­gen; im Giebel eine Welt­ku­gel, für: welt­weite Geschäfte; es ist das ehema­lige Haupt­ver­wal­tungs-Gebäude von Oren­stein & Koppel; Spezia­lis­ten für Loko­mo­ti­ven, Eisen­bahn­ma­te­rial, Löffel­bag­ger: Suez‑, Panama‑, Nord­ost­see­ka­nal.
Fünf­zehn Hektar ist das Werks­ge­lände groß, das hier am Bruns­büt­te­ler Damm mit den Nummern 144 bis 208 gekenn­zeich­net ist; alles ursprüng­lich: von 1899 bis in die 20er Jahre baute O&K hier Bauab­schnitt für Bauab­schnitt Werk­halle nach Werk­halle: insge­samt sechs; sie sind noch da, man kann sie betrach­ten; die ältes­ten haben in ihrer zinni­gen Giebe­lig­keit fast etwas Kirch­li­ches und der hohe Schorn­stein inmit­ten wäre ein Zeichen nach oben; er ruht; ein Denk­mal seiner selbst.
Für die Fach­leute, sagte man mir, sind die O&K‑Hallen wie ein Lehr­buch des Hallen­baus: im ersten Bauab­schnitt drei­schif­fig, Gitter­stüt­zen mit Dach­bin­dern, spätere mit Krag­ge­lenkträ­gern, einge­häng­ten Schwe­be­trä­gern, schließ­lich zwei­schif­fig mit Durch­lauf­trä­gern, von O&K selbst konstru­iert: Stahl­bau der Extra­klasse; aber heute alles von gestern; eine Zeit­lang gab es in der west­li­chen Halle Gokart-Rennen, priva­tes Motor­ver­gnü­gen, geöff­net von neun bis open end, jetzt ganz zu; die Hallen sind zu vermie­ten, zu melden bei der Objekt­ver­wal­tung; das ist wohl der freund­li­che Herr Hopp, bei dem wir uns bedan­ken, weil er uns alles gezeigt hat. “Beschrif­ten der Mauer wird straf­recht­lich verfolgt”, steht drau­ßen. Dane­ben: “Hakan T., ich liebe dich über alles!”
Dann kommt das Ex-Verwal­tungs­ge­bäude von O&K, 1922 gebaut, 1961 in eine Symme­trie verwan­delt, die Heil­mann & Litt­mann, die Seiner­zeit-Archi­tek­ten, viel­leicht deshalb nicht woll­ten, damit ihr Bruns­büt­te­ler-Haus nicht aussieht wie das Verwal­tungs­ge­bäude am Tempel­ho­fer Ufer, das die berühm­te­ren Wolf­fen­stein & Cremer gebaut haben. Das denke ich mir so, als ob die Stadt ein Wunsch­kon­zert wäre, das man mit eige­nen Melo­dien singen darf.

Damit bin ich in der Pris­dor­fer Straße, in der die Gegend meter­schnell ihren Charak­ter geän­dert hat: man hört nun den Bruns­büt­te­ler Damm zwar noch rauschen, aber dieses Rauschen ist nun nur noch die Illus­tra­tion der Einfa­mi­li­en­haus-Stille, die hier herrscht, und auch wenn man über die Geleise die Staa­ke­ner Straße erreicht und den schwarz-roten Neubau von O&K vor sich hat, ist der Eindruck Ruhe, Stille; die Gegend hat nichts Indus­tri­el­les, das Indus­tri­elle hat man hinter sich, siehts noch: die Werk­hal­len aus Vorkriegs­zei­ten: museal; die Geschäf­tig­keit von heute ist ruhig, auch Axel Sprin­ger, ein Stück weiter hinten und unten, verrät Bewe­gung nur durch den Rauch, der aus dem silb­ri­gen Schorn­stein steigt, welcher aufs Erste nicht nach “Verlag” aussieht.
“1994 verlor ich unweit von hier den 1. Garten, ICE Hamburg, Neuan­fang hier, viel Geld, Arbeit und Zeit inves­tiert, umsonst, jetzt kommt der Trans­ra­pid. Danke an die DBAG und an die Poli­ti­ker, Profi­ti­ker. Hier stirbt ein Stück Natur im Auftrage des Bundes­ver­kehrs­mi­nis­ters”, ange­schrie­ben am Klein­gar­ten­zaun. Die Worte verflie­ßen schon im Regen.
Der 232er kommt nur ein paar­mal am Nach­mit­tag. Ich spaziere die Staa­ke­ner Straße hinun­ter bis zur Naue­ner und Seege­fel­der, die das große Drei­eck nach Norden begrenzt, das zwischen hier und dem Bruns­büt­te­ler Damm voller Geschichte und Gegen­wart ist. Die Kneipe gegen­über der Halte­stelle des 237er, mit dem ich zum Rathaus zurück­fahre, heißt “Himmel­reich”.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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