Zwei Zeit-Häfen

Die Zeit ist eine Berg- und Talbahn. Sie verläuft über verschie­dene Ebenen. Der heutige Spazier­gang führt durch ein halbes Jahr­hun­dert oder durch ein ganzes. Mit der Zeit ist es wie mit dem Raum: Es muss was ande­res geben, ehe es Zeit gibt. Das halbe Jahr­hun­dert dieses Weges fängt um 1850 an, am Land­wehr­ka­nal, neben dem Bahn­hof Mendels­sohn-Bartholdy-Park und endet am Ostha­fen, es führt von Kreuz­berg nach Fried­richs­hain.
Das geht so: Vom Verlags­ge­bäude unse­rer Zeitung am Tempel­ho­fer Ufer sind es nur ein paar Schritte bis zum Bahn­hof Möckern­brü­cke. Das tägli­che Hinauf und Hinab dort führt hin und her zwischen U1, U15 und U7, Krumme Lanke — Warschauer Straße, Rathaus Span­dau — Rudow, diese Bahnen ziehen ein weites Kreuz durch die Stadt, hier ist ein Knoten­punkt, von Span­dau Rathaus (zum Beispiel) zur Warschauer Straße in fünf­und­vier­zig Minu­ten, von Rudow nach Krumme Lanke in fünf­und­fünf­zig Minu­ten, Möckern­brü­cke umstei­gen. Gedichte über den Bahn­hof Möckern­brü­cke kenne ich nicht, über den Bahn­hof Gleis­drei­eck gibt es welche. Von Möckern­brü­cke dort­hin sind es grade mal zwei U1- oder U15-Minu­ten, die Treppe runter, auf den tiefe­ren Perron: U2, Ruhle­ben — Vine­ta­straße, wenige hundert Meter, nicht mal eine Minute: ich bin in Berlins jüngs­tem U- oder Hoch­bahn­hof; er heißt nach Felix Mendels­sohn Bartholdy. Die BVG schreibt seinen berühm­ten Nach­na­men mit einem Binde­strich, er selbst wusste, warum zwischen dem jüdi­schen Mendels­sohn und dem christ­li­chen Bartholdy die Verbin­dung unter­blieb.

Aus den Fens­tern dieser leicht geschwun­ge­nen Bahn­hofs­halle hat man bedeu­ten­den Blick nach allen Seiten. Ich stehe dort, eine Vier­tel­stunde schon, zwan­zig Minu­ten, als ob ich mich nicht satt sehen könnte: debis-Merce­des, am neuen Pots­da­mer Platz, der eigent­lich hier gar kein Platz ist, die wilde Bauge­gend an dem Ort, an dem die Grimms wohn­ten, weil sie Ruhe haben woll­ten für die deut­schen Wörter. Die frühe Dezem­ber-Dunkel­heit ist plötz­lich da, als ob es in der Groß­stadt keinen Über­gang gäbe zwischen Licht und Dunkel, während doch Groß­stadt wesent­lich Über­gang ist. Die freie Schnee­flä­che des Mendels­sohn-Parks, von vielen Haus­lich­tern umge­ben, die weih­nacht­lich wirken auch dort, wo sie sich — wie aller­dings viele — gar keine beson­dere Weih­nachts­mühe geben, sogar hinten die Post­bank sieht aus wie ein Weih­nachts­baum bei der Arbeit: das ist der Hafen.
Wenn man sich sagt: das ist der Hafen, dann ist er da aus seiner Gewe­sen­heit, der Schö­ne­ber­ger Hafen am Land­wehr­ka­nal, ange­legt 1852, gleich nach Fertig­stel­lung des Land­wehr­ka­nals selbst. Ich habe diesen Hafen noch vor Augen, an den grani­te­nen Mauern liefen kleine Trep­pen abwärts, hier konn­ten sich die Schiffs­kähne auswei­chen, die die Back­steine brach­ten, aus denen Berlin gebaut ist. Mehr als ein Jahr­hun­dert lang hat es statt des Mendels­sohn-Parkes diesen Hafen gege­ben. 1884 ist Theo­dor Fonta­nes Roman Cecile in Zeitungs-Fort­set­zun­gen erschie­nen; Hafen­platz Nr. 5 a wohnte Cecile von St. Arnaud, die schöne Heldin, die am Ende des Romans tot ist. Sie “lag auf dem Sofa, ein Batist­tuch über Kinn und Mund. Es war nicht zwei­fel­haft, auf welche Weise sie sich den Tod gege­ben hat. Der Ausdruck ihrer Züge war der Ausdruck derer, die dieser Zeit­lich­keit müde sind.” Tod durch Vergan­gen­heit, Tod durch die Zeit, viel­mehr: die Zeiten; an der Zeit ster­ben wir alle, die einen an der Zeit der bloßen Jahre, andere an der Zeit der Bedeu­tun­gen, in Schüt­zen­grä­ben zum Beispiel oder auf den Sofas der Vorur­teile.

Es war eine elegante Gegend, villen­ar­tige Häuser mit großen Miet­woh­nun­gen, “Geheim­rats­vier­tel”, sagte man auch. Im Adress­buch von 1859 ist das Haus von Cecile als Baustelle ausge­wie­sen; in Nummer 8, das einem Maurer­meis­ter gehörte, wohn­ten ein Profes­sor, zwei Ober­tri­bu­nals­räte, ein Wirk­li­cher Gehei­mer Rat, holen wir sie mal ein biss­chen raus aus dem Verges­sen: mit Namen von Gärt­ner, von Oppeln, von Rabe, Nach­bar Nico­lo­vius, Kammer­ge­richts­rat, auf der ande­ren Nach­bar­seite, Nummer 4, das Diebit­sch­sche Haus, Fontane beschreibt es: alham­bra­ar­tig; die Inter­pre­ten finden was dabei, dass Cecile nicht in dem Haus mit der Alham­bra-Kuppel wohnt, sondern in einem benach­bar­ten von aller­dings “kaum minde­rer Eleganz”. Eine solche Gegend ist das jetzt längst nicht mehr. Wo die elegante Cecile wohnte, ist jetzt die beschneite Decken­flä­che der Tief­ga­rage des gestuf­ten Studen­ten­heims, das hier schon ganz andere Zeiten gese­hen hat, als die, die mit debis und Pots­da­mer-Platz- Arka­den jetzt ange­bro­chen ist. “Das Studen­ten­werk und unser großer Nach­bar vom Pots­da­mer Platz”, hat die studen­ti­sche Selbst­ver­wal­tung plaka­tiert, “werden nichts unver­sucht lassen, um uns bei der nächst­bes­ten Gele­gen­heit zu vertrei­ben, damit Platz geschaf­fen wird für neue Nach­barn, die zahlungs­kräf­ti­ger sind als wir, das bunte Studen­ten­volk vom Affen­platz”, vorerst zahlt der “große Nach­bar” allen, die von ihren Appar­te­ments auf den Pots­da­mer Platz blicken können, als Entschä­di­gung für Bau-Beein­träch­ti­gung monat­lich fünf­zig bis hundert­vier­zig Mark. Es ist eine lebhafte, multi­kul­tu­relle Gegend. Es herrscht die Stim­mung des Provi­so­ri­schen und Vorüber­ge­hen­den, die zu Studen­ten gehört, wie über­haupt zur Jugend.

Von Fontane hier­her: ein ande­res Jahr­hun­dert. Aber als jene Cecile oder jene Geheim­räte aus ihren Fens­tern über das Hafen-Wasser sahen, sahen sie manches, was ich jetzt auch noch sehe: den schö­nen Schorn­stein zum Beispiel vom Abwäs­ser-Pump­werk Nummer III des großen James Hobrecht; und wenn sie verreis­ten, hatten sie es nicht weit zu Franz Schwech­tens eindrucks­vol­lem Anhal­ter Bahn­hof, von dem ich jetzt nur noch den Eingang und die weite Fläche sehe, über dem sich die Halle erhob.
Die U‑Bahn, die jetzt U1 oder U15 heißt, zur Warschauer Straße, war die erste deut­sche Hoch­bahn, gebaut von Siemens und der Deut­schen Bank zwischen 1896 und 1902, Fontane hat also nur ihren aller­ers­ten Anfang gese­hen; sie ist nur wenig älter als mein Vater: ein ande­res Jahr­hun­dert. Mit dieser Bahn brau­che ich vom Mendels­sohn-Hafen (ich nenne ihn jetzt mal so) eine Vier­tel­stunde zum Bahn­hof Schle­si­sches Tor, der im nächs­ten Jahr hundert Jahre alt wird, der erste Bahn­hof mit einer Kondi­to­rei und einem Cafe: Berlins schöns­ter Bahn­hof, sagen manche, die Archi­tek­ten hießen Grise­bach und Dinklage. Von dort wenige Minu­ten auf die Ober­baum­brü­cke, von der aus es einen präch­ti­gen Ausblick gibt auf den Ostha­fen. West­ha­fen an der Putlitz­brü­cke, Ostha­fen an der Ober­baum­brü­cke. Fried­rich Krause hieß der Hafen­bau­meis­ter. Der erste Entwurf des Ostha­fens ist von 1896, gebaut 1907 bis 1911: vom Mendels­sohn-Hafen bis zum Ostha­fen: 50 Jahre einer ande­ren Zeit, ein ande­rer Zeit­weg durch Berlin.

Beide Enden meines heuti­gen Weges sind jetzt heftige Plätze der Erneue­rung Berlins. Die Stadt zieht sich empor aus den Alpträu­men der vergan­ge­nen fünf­und­sech­zig Jahre. Für manche, die jetzt am Mendels­sohn-Park und nebenan und über die Ober­baum­brü­cke hin und her laufen, ist die Gegen­wart das, was immer war. Für mich und Meines­al­t­rige ist das, was war, immer noch ein biss­chen etwas, was ist.
Die Zeit ist zugleich etwas Indi­vi­du­el­les und etwas Unaus­weich­li­ches, man kann aus seiner Zeit nicht umzie­hen in eine andere. Und wenn man sich Batist­tü­cher über Kinn und Mund legt, um in den Hafen des Verges­sens zu gelan­gen, wird man — wie der Beispiels­fall zeigt — manch­mal gese­hen und gelangt in die Zeit der Erin­ne­rung, obwohl man niemals dort war, wo die Zeit ihre Marken hat.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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