Korridore für Autos

Ich komme mit der Tram Nr. 3 vom Hackeschen Markt, fünfundzwanzig Minuten bis zur Sulzfelder Straße. Im Nu ist die Bahn weg, auf dem schmalen Straßenbahnstreifen stehe ich zwischen den Autos, die von links und von rechts den Straßendreck hochwerfen an diesem schmutzigen Donnerstag.
Ich bleibe eine Weile stehen in dem Sausenbrausen und blicke ostwärts die Buschallee hinunter, die sich zur Hansastraße hinzieht, um in elegantem Bogen zur Suermondtstraße zu werden. Der Politiker, nach dem die Buschallee heißt, war in Konstantinopel geboren, ehe er hier draußen Landrat wurde; darüber könnte man in diesen Tagen auch ein bisschen nachdenken; aber wahrscheinlich war der Geburtsort des Geheimrates nur Zufall.

Viele Tatsachen, die das Leben bestimmen, sind aber nur Zufall; die Zeit hat eine Tendenz dazu, außerhalb der Pläne zu verlaufen. Plötzlich ist alles ganz anders. „Straßen in der Art von Korridoren für durchsausende Autos lehnt das Gefühl ab“, auf seinem Weg „vom phantastischen Ästheten zum ästhetischen Sozialidealisten“ schrieb Bruno Taut, der große Baumeister, 1931; da waren einige der Bauten in der Buschallee schon sechs Jahre alt: Der im Winkel von der Gartenstraße zur Buschallee herunter reichende Block ist 1925/26 gebaut, die kilometerlangen Bauzeilen längs der Allee: 1928/29.
„Korridor“ – das ist für den, der noch immer zwischen den Autos an der Trambahn-Haltestelle steht und ostwärts blickt, ein treffendes Wort, und wenn er weiß, was Taut über die Autokorridore gesagt hat, fängt er an, sich nach dem Verhältnis der Worte und der Taten, von Absicht und Verwirklichung zu fragen, oder einfach nur: nach der Zeit. Soviel Zeit habe ich nicht mehr, bis ich auch siebzig bin, wenn ich überhaupt so weit komme; möchte ich dann, dass ich verglichen werde mit dem, was ich hätte werden können und nicht geworden bin, nicht mal mit dem, was ich war und nicht mehr bin. Sobald man die berühmten „Loggienbänder“ der Taut-Häuser nicht mehr sieht, weil man auf die Hofseite gegangen ist, wie ich jetzt, ändert sich der Eindruck. Die tautschen Farben, sein lichtes, zurückhaltendes Grün, in das sich an Türen und Fenstern dezentes Rot und Gelb einfügt, sind zurückgekehrt, und nach links erstreckt sich der Hof, der ein ganzes lebendiges Areal ist, gegenüber der Autostraße so anders, wie es die gegeneinander gesetzten Vor- und Rückfarben Tauts von Anfang an ausdrückten: draußen und drinnen.

Ich gehe bis zu der knorrigen Schwarzpappel, die an der Ecke Hansastraße einen Kreuzungs-Mittelpunkt herzustellen versucht, der der Architektur nicht gelungen ist. Wer hier den Taut-Bauten den Rücken zudreht, den erstaunt vor allem die neue Farbigkeit der Sechsstöcker, die zwischen der Falkenberger Straße und der Buschallee liegen: es sind so untautische Bonbonfarben, dass man sich erst wundert, ehe man sich sagt, dass die Farbgeber wohl Architektur-Ironiker waren: so wie Taut sollte hier eben nichts aussehen, was nicht von Taut war. Die Gegenwart will in keiner Weise Vergangenheit sein. Die Hochbauten sehen proper und ordentlich aus; diese durchsichtige Badezimmer-Farbigkeit wird den Charakter der Hauptstadt zur Jahrtausendwende viel deutlicher bestimmen als die Tautschen Farben, um die der Denkmalschutz mit den Renovierungs-Architekten streitet.
Mit solchen Gedanken bin ich fast wieder zur Gartenstraße zurückgelaufen. Gerade als ich stehen bleibe, um mir eine der gelb-grauen Türen genauer anzusehen – denn die Gelb-Grau-Kombination finde ich am elegantesten – schüttelt über mir, aus dem dritten Stock, eine Frau ihre weiße Tischdecke aus, so anhaltend, dass man das weiße Tuch deuten möchte. Denn der Taut-Bau, der nun in der Gartenstraße gegenüber liegt, hat nichts mehr von tautschen Farben, seine Fassade ist in grauem Einheitsputz untergegangen, unter dem man sie aber gewiss demnächst hervorholen wird, wie an den Fronten in der Buschallee gegenüber.

Ich gehe die Gartenstraße aufwärts, und schon bald erkenne ich über die Falkenberger Straße hinweg, hinter der Musikschule, die leuchtenden blauen Kreuze, mit denen die Rückfronten der Taut-Häuser an der Trierer Straße geziert sind.
Ich weiß schon, dass ich mit der Tram Nummer 4 zur Thomas-Mann-Straße nur wenig mehr als zehn Minuten und von dort die Erich-Weinert-Straße hinunter bis zur nicht mehr so genannten „Carl Legien Stadt“ nur noch ein paar Minuten mehr brauchen werde. Auch dort ist ein großes Taut-Areal gerade dabei, sich zu sich selbst zurück zu entwickeln.
In den Architekturbüchern liest man: die Loggienbänder, die in der Buschallee zuerst auftreten, hatte Taut 1925 eigentlich für die Gubitz-, Sodtke-, Trachtenbrodt-, Sültstraße entworfen, für die Straße, die heute nach Erich Weinert heißt, damals nach Carmen Sylva, der romantischen rumänischen Königin. Darüber habe ich im ersten Band meiner Berliner Spaziergänge geschrieben, „Über Weinert von Taut zu Taut“ heißt der Text.
Heute werde ich also einen anderen Weg „von Taut zu Taut“ unternehmen. Jetzt stehe ich an der Ecke Berliner Allee / Falkenberger Straße vor der Kirche, die Steine enthält, die Jahrhunderte alt sind. Der Autoverkehr braust heftig vorüber, die Fußgänger müssen weite Wege gehen. Die Wege zum See liegen unterm unberührten Schnee.
Hier kommt vieles zusammen, denke ich. Die besten Pläne sind unvollendet. Berlin ist nicht fertig. Es ist kein Denkmal seiner eigenen Geschichte; es lebt, es stellt Ansprüche.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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