Abend über der Wilhelmstadt

An die S-Bahn nach Spandau muss ich mich erst wieder gewöhnen. Zur U7 habe ich ein altes Verhältnis. Manchmal ist mir, als ob ich’s gar nicht gewesen wäre, der dort hinten, im Amtsgericht am Altstädter Ring, arbeitete, als es diese U-Bahn noch gar nicht gab; da fing sie gerade an, ins Leben zu treten; ich habe sozusagen ihr Wachsen verfolgt. Ich kam meist mit dem Auto, von der Heerstraße, meist durch die Pichelsdorfer, oft aber auch durch die Wilhelmstraße.
Durch die Wilhelmstraße fuhr ich wegen der Geschichte. Die Gegenwart veränderte sich in den 60er Jahren so schnell, dass ich manchmal nach einem Haltepunkt suchte, um mir zu sagen: Bedenke, bedenke …

Von der Möckernbrücke in Kreuzberg, in deren Nähe unsere Redaktion ihren Sitz hat und wo ich also diesen Text jetzt schreibe, bis zum Rathaus Spandau braucht die U7 dreiunddreißig Minuten. Währenddessen lese ich das Weltblatt, dem unser kleines Lokalblatt gehört: die FAZ; die Zeitung ist für die volle U-Bahn fast zu groß; sie vermittelt mir hier ein Gefühl von Fremde: unter Westberlin hindurch, die Welt vor der Nase; im Kosovo ermorden die einen die anderen, der Außenminister legt die Stirn in Falten und sagt: die politischen Möglichkeiten sind noch nicht erschöpft; wenn man Bodentruppen einsetzt, weiß man nicht, welche Konsequenzen das für die Soldaten hat; darüber muss man sich klar sein … im Dunkeln unter der Erde entlang fahren und versuchen, sich über etwas klar zu sein … als ich mir dann klar bin, habe ich das Gefühl, dass das den Außenminister doch gar nicht interessiert. Nach Spandau zu wird die Bahn natürlich immer leerer; als die Fahrt zu Ende ist, habe ich zu den vier Peoples, die mit mir den Wagen verlassen, fast ein kleines persönliches Verhältnis. Ich folge der jungen Frau, die mir gegenüber gesessen und mit innigem Ausdruck in einem Taschenbuch gelesen hat, die Rolltreppe aufwärts, die oben gegenüber dem prächtigen neuen Bahnhof noch halbwegs vergittert ist, durch die Bahnhofshalle hindurch. Der Glashallenbahnhof verwandelt das untere U-Bahngefühl augenblicklich.

Es ist halb fünf. Der Autoverkehr ist dicht und laut. Spandau beginnt den Feierabend. In der Fleischerei putzen sie schon das Fett von der Buletten-Vitrine; an den Theken der Klosterstraße lehnen schon manche Biertrinker; die hohen Häuserfronten blicken von oben, wo sie schon im Abenddunkel des Januarmontags liegen, mit einer gewissen Hochmütigkeit herunter oder mit Verwunderung. Die Bertolt-Brecht-Schule in der Wilhelmstraße liegt in einem Gebäude, das zwar mit der Stadtbibliothek beginnt, das aber etwas Lagerhaftes hat, wie die Standorte der Legionen, die die Cäsaren in die Welt schickten. In einem erleuchteten Erdgeschossraum zur Straße schwingt eine Dozentin den Lehrfinger; ein Mann, der eng in der Schülerbank sitzt, lächelt heraus und, indem ich den Unbekannten mit einem Kopfnicken grüße, sieht mich auch die Dozentin und während unsere Blicke sich begegnen, bleibt ihr Lehrfinger links über ihr stehen, weil sie ihn, Auge in Auge, mit mir einen Augenblick vergessen hat. So schnell verbinden sich drinnen und draußen. Aber man muss Fenster haben. Und Licht.
Über dem Fußballfeld, das sich der Schule anschließt, liegt ein Luxus von Licht. Gegenüber am Barfly, hinter dessen Fenstern an der Brüderstraße die Kerzen leuchten und wo sich vielleicht schon Augenblicke mit Augenblicken verschränken, schimmert das ankündigende Licht blau. Die östliche Seite der Wilhelmstraße ist häuslicher als die westliche, die schon Raum und Land lässt; die Straße hinten heißt „Krumme Gärten“ nach einer Siedlung aus einer Vergangenheit, in der die Neuheit vielleicht die „Entdeckung“ Amerikas war, wenn man das hier draußen erfuhr. Ich bin jetzt aber schon an der Melanchthon-Kirche vorüber, die ziemlich im Dunkeln steht. An der Ampel stauen sich die automobilen Heimfahrer, auch solche, die gleich nach rechts abbiegen werden, wo es hinter dem um die Bäume sorgfältig herumführenden Mauerzaun weiträumige Angebote gibt. Am Eingang das Wachpförtnerhäuschen von ehemals verkauft jetzt „Presse“, links das in sanftem Gelb beleuchtete Backsteinhaus heißt jetzt „Casa Natura“, bietet Massivholzmöbel an und sieht im Abenddunkel wie eine Verheißung aus. Das allerdings noch verstacheldrahtete Garagenhaus könnte man von der Querfront aus für ein Gotteshaus halten; Aldi und Kaiser’s liegen rechts hinten, hinter weiträumigen Parkplätzen und verschiedenen Anfahrtswegen, drüber schimmert die Glaskuppel gegen den Abendhimmel: Es ist belebt und ruhig zugleich, eine angenehme abendliche Konsumatmosphäre. Wo die Warenkarren unter rundem Glasdach auf Benutzung warten, bleibe ich stehen; genauer kann ich nicht werden; ich sage mir: Hier ist der Ort.

Albert Speer wanderte – sagen wir mal: hier, gerade hier – über den Gartenweg, den er selbst im Gefängnishof angelegt hatte, um achthundert Erdbeerstauden, hundert Fliederbüsche, unter neunzig Kastanien, fünfzig Nussbäumen dreißig Runden zu insgesamt sieben Kilometern solange in Linksrichtung, dreißig Erbsen von der rechten in die linke Hand gleiten lassend, fast vierzigtausend Kilometer; fast um die Erde, und selbst, als man ihn pünktlich entließ in eine veränderte, das heißt in Bezug auf ihn: in eine einigermaßen wiederhergestellte Welt, bezeichnete er den Augenblick nach dem Ort, den er in seiner teils fiktiven, teils aber ja auch ganz wirklichen Weltumwanderung unterdessen erreicht hatte. Hier also stand das Gefängnis der Hauptkriegsverbrecher. Ein Gefängnis war es seit Wilhelms Zeiten. Die früheren Insassen kennen wir nicht so genau wie die sieben, die am 18. Juli 1947 hierher kamen und die Oberwelt repräsentierten der Teufelswelt, deren Hauptteufel wieder hinabgefahren waren und deren Helfer und Helfershelfer wieder Menschen geworden waren und es immer mehr wurden, während zuletzt hier noch einer eingeschlossen war und sich einschloss, fast hundert Jahre alt, sorgfältig bewacht und ärztlich betreut, so dass er schon geschickt gewesen sein muss, sich am Ende noch selbst umbringen zu können; da fingen schon die Legenden an. Ein Kyffhäuser sollte der Bau aus Rathenower Ziegeln hier nicht werden, dachte da irgendwer und dachten irgendwelche, kein Mahnmal, kein Erinnerungszeichen: Konsum statt Erinnerung. Das Denkmal an die Weltmordveranstaltung 1914 bis 1918, auf dem nicht ein einziger Täter benannt, aber die Opfer zu Helden gemacht werden, das hat niemand abgerissen: eine Lügenstele wie viele in unserem Lande; dass die jungen Männer wieder bereit sind, wenn Bodentruppen gebraucht werden. Die Täter finden sich wohl von selbst.

Jetzt ist es ganz dunkel. Als ich mit dem 235er durch die Adamstraße zurück und nach Hause fahre, berührt mich der Name Adam einen kurzen Augenblick mit Trost, weil Adam Mensch heißt und Anfang bedeutet, Beginn (wenn es hier auch nur der Vorname des alten Bürgermeisters Adam Betcke ist).

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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