Nicht Flitter und Schminke

In der Wollank­straße sieht man alltäg­lich, was Wieder­ver­ei­ni­gung ist. Oder was die Mauer-Tren­nung war. Man muss sich nur an einem belie­bi­gen Alltag, zum Beispiel an diesem Niesel­re­gen-Donners­tag im Februar, vorstel­len, dass unter der S‑Bahn die Wollank­straße von beiden Seiten plötz­lich zuende ist. Dass wir uns das haben gefal­len lassen, sage ich mir jedes­mal wieder, wenn ich hier entlang­komme. Viel­leicht ist das ein ganz persön­li­ches Gefühl. Viel­leicht lässt es sich verall­ge­mei­nern. Viel­leicht ist es aber auch ein längst über­leb­tes Gefühl. Ein alter Mann, denke ich, denkt in Geschichte, weil er eben alt ist und sich mehr mit dem beschäf­tigt, was hinter ihm liegt, als mit dem, was kommt. Und wenn er in Geschichte denkt — was sich ja als Formel ziem­lich groß­ar­tig anhört -, dann ist er in Wirk­lich­keit oft nur damit beschäf­tigt, sein persön­li­ches “Damals wars” zu reka­pi­tu­lie­ren.
Nach­dem ich an den Häusern des wieder schön goldig geschrie­be­nen “Vater­län­di­schen Bauver­eins” in der Weddin­ger Wollank­straße (Nr.75 bis 80) vorbei und mit der Pankower Wollank­straße in die kurze Schön­hol­zer und die breite Grab­be­al­lee gelangt bin, stehe ich gleich hinter der Panke vor der Wohn­an­lage des “Beam­ten-Wohnungs-Vereins”, derent­we­gen ich heute gekom­men bin.

Grab­be­al­lee 14 bis 26. Gebaut 1908 bis 1909. So alt also, sage ich mir, wie meine Mutter, die in Bad Schwar­tau bei Lübeck lebt, und — wenn sie sich hier­her bewe­gen könnte, wenigs­tens so, wie ich es noch kann — dann könnte sie sich an diesem Beispiel viel­leicht wie an sich selbst klar­ma­chen, was neun­zig Jahre sind: diese 90 Jahre, das 20. Jahr­hun­dert, in dem die wüstes­ten Zerstö­run­gen zu über­ste­hen waren, die die Menschen bisher sich selbst und der Erde zuge­fügt haben.
Damit kommt in mir gegen diese Häuser aus Rathe­nower Hand­strich-Ziegeln fast ein zärt­li­ches Gefühl auf. Ich freue mich, dass sie reno­viert, von den Spuren des Verfalls fast befreit sind; die Wieder­her­stel­lungs-Arbei­ten gehen gerade zu Ende. Wenn der Flie­der blüht, kann man auf dem Erschlie­ßungs­weg, der die Paul-Fran­cke-Straße am Zinger­gra­ben fort­setzt, auf und ab gehen und hinüber­se­hen auf Köber­lesteig und Maja­kowski­ring, in dem alles Staats­tra­gende nur ein paar Erin­ne­run­gen und Erin­ne­rungs­ta­feln hinter­las­sen hat. Diese Paul-Fran­cke-Straße ist — wie jeder sieht — jetzt eine Straße, um gemüt­lich und mit weitem Gefühl zur schmuck­voll gemau­er­ten Haus­tür zu gehen, hinter der man eine gut geschnit­tene Wohnung hat. Aber anfangs war sie eine Idee. Der Beam­ten-Wohnungs-Verein war am Anfang dieses Jahr­hun­derts der größte gemein­nüt­zige Wohnungs-Verein in Berlin, anfangs wirk­lich nur für Beamte, denn “wer ein behag­li­ches Heim besitzt, ist gefeit gegen destruk­tive Tenden­zen”, sagte ein kaiser­li­cher Minis­ter.

Paul Fran­cke hieß der stell­ver­tre­tende Vorsit­zende. Warum ist die Straße nach dem Stell­ver­tre­ter benannt, war der Vorsit­zende selbst eine stra­ßen­na­mens­un­wür­dige Pfeife, frage ich mich, aber nicht so inter­es­siert, dass mich auch die Antwort inter­es­siert hätte. Auf diese Verwal­tungs­män­ner kommt es nicht an. Paul Mebes war der Mann, dem hier die Erin­ne­rung gelten muss, der Archi­tekt, der Baumeis­ter, über­haupt einer der bedeu­tends­ten Baumeis­ter Berlins; er voll­endete Schin­kel, hat Werner Hege­mann, der Kriti­ker des “Stei­ner­nen Berlin” gesagt. Nicht über­trie­ben. Zwei Jahre zuvor, 1906, war Mebes, vier­und­drei­ßig Jahre alt, zum “bautech­ni­schen Vorstands­mit­glied” dieses Wohnungs-Bauver­eins gewählt worden. Sein Vorgän­ger, Erich Köhn, war kein ausge­bil­de­ter Hoch­bau-Archi­tekt gewe­sen. Die Zeit, gegen die Mebes nun anzu­bauen begann, hatte massig gebaut in Berlin; es war die Kriegs­ge­winn­ler-Zeit, die Boden­spe­ku­la­ti­ons-Zeit, die Ausbeu­tung-Zeit nach dem deutsch-fran­zö­si­schen Krieg von 1870/71, Deutsch­land griff nach der Welt­macht und beutete die aus, die es dann tatsäch­lich grei­fen ließ.

In dieser Zeit des Massen­baus, die unse­rer Stadt bis heute tiefe Züge in die Miene schreibt, plan­ten die Unter­neh­mer die Häuser und die Wohnun­gen, die Archi­tek­ten hatten kaum für was ande­res Zustän­dig­keit als für Fassade und Fassa­den-Schmuck. Da war Paul Mebes ein ganz ande­rer Mann. Man sieht es. U.a. hier in der Grab­be­al­lee. Das war seine fünfte Wohn­an­lage für den Beam­ten-Wohnungs-Verein. Es folg­ten noch viele weitere, auch schlech­tere, kaum bessere. Es war nicht nur der Kreis Nieder­bar­nim, dessen Plakette vorne an der Fran­cke-Straße jetzt mitre­no­viert ist, der den Baumeis­ter lobte.
Die Erschlie­ßungs­straße, eine Privat­straße anfangs, und die Innen­höfe, ange­passt die ganze Anlage an die land­schaft­li­chen Gege­ben­hei­ten, sonnige Wohnun­gen mit Stra­ßen­sicht, Bäume, Kinder­spiel­plätze — das war die archi­tek­to­ni­sche Idee, ordent­li­che Bauge­sin­nung, kein Protz und Prunk. Kein Flit­ter, keine Schminke, sagt Mebes in seinem Buch “Um 1800”, in dem er sich zugleich etwas betu­li­che Gedan­ken darüber macht, wann eine Frau am schöns­ten aussieht; ein Haus wie eine Frau, spar­sam geschmückt, nicht mit Glit­zer behängt: Na ja, man muss einen Archi­tek­ten nicht nach seinen Verglei­chen bewer­ten. Sondern nach seinen Häusern. Und dies­be­züg­lich — wie gesagt — schließe ich mich dem Kreis Nieder­bar­nim an. Die Ein- und Inwoh­ner hoffent­lich auch, nach­dem der Reno­vie­rungs­är­ger nun vorüber ist.
Die Häuser von Mebes erle­ben jetzt ihre fünfte Staats­form. Indem ich durch den Maja­kowski­ring, tief unterm Regen­schirm, abwan­dere, versu­che ich mir vorzu­stel­len, welche Zeit­ge­fühle die Häuser hätten, wenn sie wirk­lich Frauen wären.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Günter Haase / CC BY-SA 3.0

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