Ich jedenfalls werde Sie nicht vergessen

Von meiner Wohnung am oberen Kurfürstendamm brauche ich mit S4 und U7 – Umsteigen in Neukölln – bis zum U-Bahnhof Blaschkoallee fünfundzwanzig Minuten. Wie schnell man sich in Berlin von einer Stadtempfindung in die andere versetzen kann! Das wundert mich jedesmal wieder. Auf der Fahrt lese ich in dem Weltblatt, dem unser kleines Lokalblatt gehört, das Mittwochsfeuilleton. Iris Murdoch ist gestorben, die englische Schriftstellerin und Philosophin; Alzheimer; schon seit langem wusste sie nicht mehr, was sie geleistet hat; nur das freundliche Lächeln war ihr geblieben, dessentwegen sich vor fast fünfundzwanzig Jahren ihr Mann in sie verliebt hatte. Die Nachricht ergreift mich. Schließlich ist es egal, was wir geleistet haben. Es vergeht. Wie wir selbst. Über uns alle breitet sich das Vergessen, das die Voraussetzung ist für’s neue Erinnern. Blaschkoallee. Ich muss aussteigen, hinauf in die Gegenwart des Fritz-Reuter-Viertels, der Hufeisensiedlung. Der Ausgang des U-Bahnhofs zur Stavenhagener Straße führt aus der Unterwelt der Schnelligkeit in eine Oberwelt sicherer Ruhe. Vor Augen hat man, im überraschenden Gegensatz zur östlichen Seite, an der westlichen Seite der Fritz-Reuter-Allee unmittelbar die „Rote Front“. Wer die Bruno-Taut-Fassaden an der Fritz-Reuter-Allee bisher nur aus Büchern kennt, der sagt sich wirklichkeitserstaunt: … was, was sagt er sich? Kommt er an einem sonnigen Februartag gegen Mittag und die Sonne scheint ihm entgegen, sagt er sich: Das berühmte Rot ist fast schwarz. Rot und Schwarz, Staat und Kirche, Soldaten und Priester, links und rechts. Die Taut-Front legt dicke Assoziationen nahe. Die „Rote Front“ demonstriert, provoziert. Vielmehr: Imperfekt! Provozierte vielleicht 1930, als diese Häuser fertig waren, entworfen von Bruno Taut, verantwortet von Martin Wagner, dem Stadtbaurat von Berlin, der im Begriff war, aus der SPD auszutreten, weil sie nicht energisch genug war im Verfolgen des Sozialismus.
Die Siedlung heißt „Hufeisen-Siedlung“, weil Bruno Taut zwischen Fritz-Reuter-Allee und Lowise-Reuter-Ring, um den kleinen Teich eine Häuserreihe im Rund angelegt hat: vor allem aus der Luft sieht das Langhaus mit den blauen Loggien, die den Himmel herunterholen, aus wie ein Hufeisen. Das Hufeisen ist ein Zeichen des Glücks.

Eine junge Mutter zeigt ihrem Zweijährigen inmitten des Hufeisens, auf dem Abhang zum gefrorenen Teich, wie man rodelt. Sie ist so jung, dass sich ihr die Pädagogik schnell zum eigenen Vergnügen verwandelt: „Pass auf!“ ruft sie, „Mama kommt angesaust!“
„Tüttüt! Tüttüt!“ ruft der Kleine und klatscht in die Hände.
Eine Pelzmütze kommt vorüber, drunter ein mürrisches Gesicht, dahinter zwei superkleine Zwerghündchen im gestrickten Leibchen, die sich kaum trauen, die Pfoten auf den eisigen Schnee zu setzen.
„Wie geht’s denn den Kleinen!“, ruft die junge Frau den kleinen Abhang herauf, und das Gesicht des Mürrischen erhellt sich. Meines auch. „Gut! Gut!“ versichert der Entmürrischte und scheint anzufügen: Wem sollte es nicht gut gehen, der an einem solchen Wintersonnentag, in solcher Stadtgegend von einer lebendigen jungen Frau nach seinem Befinden mit einer Jubelstimme gefragt wird, die von dem eigenen Wohlbefinden sofort ein solidarisches Stück abgibt!

Wenn einer fragte, als wüsste er die verneinende Antwort schon: „Was hat denn der Sozialismus schon geleistet?“, dann könnte man ihn hierher führen. Der Stadtbaurat Martin Wagner war auch als Deutschland vertriebener US-amerikanischer Harvard-Professor noch Sozialist. Vieles war ihm misslungen, manche Vorstellungen waren falsch, aber die Irrtümer waren alle hochherzig, und die Leistungen, die man mit Augen sehen kann, halten stand. Gut! Gut! Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich zu dem Hausanger, der Hüsung heißt, aus dem Hufeisen heraustrete. „Kein Hüsung“ heißt ein schwer lesbares Versepos von Fritz Reuter, der in seiner Jugend ein Radikaler gewesen war. Bei Studienrat Hofe am Katharineum in Lübeck mühten wir uns mit dem plattdeutschen Text. Kein Hüsung heißt: Kein Recht zum Hausen, zum Wohnen. Ob es hier viele Leser von Fritz Reuter gibt? Das wäre eine ganz andere Erinnerungsebene: vergebliche Demokratieversuche in der Mitte des 19. Jahrhunderts, gegen Ende ins Idyllische des Endreimgesanges verzogen. Man muss sich nicht daran erinnern. Die Gegend hat eigentlich nichts Mecklenburgisches, Plattdeutsches.
Die Farbigkeit der Reihenhäuser der Onkel-Bräsig-Straße, die mit starkem Leucht-Blau beginnt, ist geschmackvoll und deutlich, allgemein verständlich und sehr gut gelaunt. In Nummer 108 hat Hanno Günther gewohnt, ein mutiger Bäckergeselle, der „Freie Worte“ gegen die Nazis gesprochen hat und den die Berliner Justiz dafür enthauptete; eine „Berliner Gedenktafel“ aus KPM-Porzellan; wie weit reicht die Erinnerung und das Vorbild? Ein Nachbar von damals bestreitet überhaupt, dass Günther hier gewohnt hat.
Nach einem anderen Reuter-Stück heißt die Dörchläuchtingstraße. Vor den Tautfarben der Häuser und den Gottesfarben des Himmels haben die Birken zu beiden Straßenseiten fast etwas Rührendes. Sie verleihen der Straße einen Hauch von Sanftmut. In Nummer 48 hat Erich Mühsam gewohnt, Apotheker aus Lübeck, anarcho-sozialistischer Schriftsteller, ein sanfter, gutmütiger Mann, heißt es, schon vor der Republik von Weimar verfolgt; von den Nazis (aber was heißt Nazis: es waren deutsche Nachbarn, Mitbürger) in Oranienburg ermordet, man weiß nicht, ob am 10. oder am 11. Juli 1934; Zensl, die Ehefrau, flüchtete in die Sowjetunion, die sie infolge von Erichs Fehlbelehrungen für sozialistisch und frei hielt, Stalin warf sie in Gulags, sie kam davon: Glück gehabt.
Bruno Taut, der Architekt, floh frühzeitig. Martin Wagner, der Stadtbaurat, war, als die Akademie der Künste sich mit Hitler gleichschaltete, einer der wenigen Akademiker, die wirklich Mut zeigten und demokratische Konsequenz. Heinrich Mann, der in dem Vorgang auch eine anständige Rolle spielte, schrieb ihm: „Ich hatte nur eine einfache, kaum erwähnenswerte Handlung begangen … Sie dagegen behaupteten aus ganz freien Stücken ihre Überzeugung. Ihr Beispiel ist selten. Es wird nachwirken, wir wollen es hoffen. Ich jedenfalls werde es nicht vergessen.“

Es ist vergessen. Ich biege in die Onkel-Herse-Straße ein, um das Haus anzuschauen, in dem der staatliche Massenmörder Eichmann gewohnt hat. Nummer 34 (schreibt Günter de Bruyn, der ein Stück weiter unten seine Jugend verbracht und in „Zwischenbilanz“ einen nüchternen Text darüber hinterlassen hat, wie es hier war in den 30er/40er Jahren). „Jeder Mensch ist anders“, steht im Mitteilungskasten der Siedlergemeinschaft Fritz Reuter, Ecke Malchiner Straße, durch die ich jetzt zur Parchimer Allee und zur U-Bahn-Station gelange; in zwanzig Minuten bin ich von dort in Kreuzberg, in meinem Büro, vor dem AppleMacintosh, an dem eine Abbildung der Melancolia 1 lehnt, 1514, von Dürer; sie hält ihre Erinnerungswerkzeuge in der Hand, sie blickt untätig ins Nichts, durch’s Stundenglas rinnt der Sand.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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